Cuvilliéstheater Der Streit von Pierre Carlet de Marivaux


 

Moral – TÜV mit Dummies

Hereinspaziert, hereinspaziert! Im anatomischen Theater des Herrn Pierre Carlet de Marivaux wird die vielleicht wichtigste Frage, die da lautet: „Welches Geschlecht zeichnet für die Untreue in der Welt verantwortlich?“ einer endgültigen Antwort zugeführt. Knapp die Hälfte der Weltbevölkerung hat diese Frage ja längst für sich beantwortet. Man kann es in ihren Büchern nachlesen. Für Juden, Christen und Moslems steht außer Frage, dass die Frau das sündhafte Wesen, wenn nicht sogar die personifizierte Sünde ist. Darum muss sie gelegentlich auch schon mal gesteinigt, verbrannt oder mit Säure übergossen werden. Wie konnte es sein, dass oben genannter Pierre Carlet de Marivaux (1688 bis 1763) diese Frage, die sich im katholischen Frankreich doch eigentlich gar nicht stellte, aufs Tapet brachte? Nun, zum einen, weil er ein intelligentes und begabtes Kind der französischen (Früh-)Aufklärung war, und zum anderen, weil er ein riesiges intellektuelles und sinnliches Vergnügen daran hatte. Letzteres teilt sich auch dem heutigen Theaterbesucher noch auf hohem Niveau mit, ersteres kann in weiten Teilen als gescheitert betrachtet werden.

Mit der französischen Revolution von 1789 war Marivaux' Literatur weitestgehend perdu, denn sein Stil erschien den Zeitgenossen, besonders den späteren Romantikern zu manieriert und exaltiert. Der Begriff „Marivaudage“ diente dazu, derartige Stilistiken zu brandmarken. Doch wahre Schönheit lässt sich auf Dauer nicht unterdrücken und so sind seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Stücke der Franzosen wieder fester Bestandteil der Spielpläne und zählen zu den meistgespielten Komödien französischer Herkunft. Der Regisseur und Puppenbauer/-spieler Nikolaus Habjan bekam die Möglichkeit, Marivaux' „Der Streit“ auf der Bühne des Cuvilliéstheaters als Schauspiel mit Puppen zu realisieren. Dafür ließ er sich auf der Drehbühne von Jakob Brossmann und Denise Heschl ein klassisches anatomisches Theater in Reinweiß installieren. Sämtliche lebenden Darsteller trugen, ebenfalls in reinstem Weiß, stilisierte Rokokogewänder. Einzig die Körper der (vorerst) unbelebten Darsteller stachen farblich heraus. Ihnen wurden gleichsam farbige und im Stile des 18. Jahrhunderts gefertigte Kostüme zuteil. (Kostüme Denise Heschl)

  Der Streit  
 

Kyrre Kvam (Musiker), Arthur Klemt (Mesrou), Oliver Nägele (Eglé), Manuela Linshalm (Mesrin), Mathilde Bundschuh (Carise)

© Thomas Dashuber

 

Das Spiel begann mit einem Dialog zwischen der Puppe einer hoheitlichen Geliebten, in der Königsloge gegenüber der Bühne auftretend und von Nikolaus Habjan geführt, und der Puppe eines Prinzen, dem Oliver Nägele Leben einhauchte und ihm seine Stimme lieh. Beide läuteten, um sich nun endlich Klarheit zu verschaffen, welches Geschlecht das sündhafte sei, das Experiment ein. Als Probanden fungierten vier Personen im Alter von achtzehn Jahren, die in absoluter Isolation und Weltferne aufgewachsen sind. (Ähnlichkeiten zu Pedro Calderón de la Barcas „Das Leben ein Traum“ drängen sich auf.) Sie sind allesamt gänzlich unbeschriebene Blätter und wurden nun aufeinander losgelassen. Die Reaktionen bestätigten sofort alle Klischeevorstellungen und alle nur denkbaren Ab- und Zuneigungskonstellationen entwickelten sich logisch und rasant. Nichts, was man nicht kannte; nichts, was man nicht erwartete. Doch aus der Feder Marivaux' (Übersetzung Peter Stein) erscheint alles überraschend witzig, leicht und liebenswert. Natürlich kommen der Prinz und seine Geliebte letztlich zu dem Schluss, dass beide Geschlechter gleichermaßen sündig und verführbar sind, wobei dem weiblichen Part naturgemäß das größere Raffinement zugebilligt wird.

Abgesehen davon, dass das Experiment, so wir uns politisch korrekt verhalten, rundweg als Perversion abgetan werden muss, ist es theatralisch ein Geniestreich, der der These, das Theater als menschliches Laboratorium zu nutzen, in dem man schad- und schuldfrei alle Möglichkeiten der Wahrheitsfindung durchspielen könnte, Auftrieb verleiht. Ästhetisch war die Inszenierung ein Hochgenuss, denn das Puppenspiel von Nikolaus Habjan und seinen Mitstreitern aus dem Ensemble des Residenztheaters gebar Zwitterwesen, halb Puppe und halb Mensch. Das Unbelebte wurde dabei lebendig und das Lebendige verschmolz zur ganzheitlichen Illusion. Angesichts dieser Wirkung stellt sich die Frage, warum diese Form des Theater allgemein so selten zu sehen ist? Im Cuvilliéstheater ist es lobenswerter Weise nach „Der Geldkomplex“ (Jürgen Kuttner und Suse Wächter) und „Stiller“ (Max Frisch) die dritte Produktion dieser Art in der Ära Martin Kušej. Allesamt sehr erfolgreiche und sehenswerte Arbeiten.

Auch dieser Abend war etwas besonderes, von hohem Schauwert, leichtfüßig und poetisch, nicht zuletzt durch die Livemusik und den Gesang von Kyrre Kvam. Die großartigen Darsteller, die sehr viel Potenzial ihrer eigenen Körperlichkeit an die Puppen abtreten mussten, überzeugten allein schon durch den Ausdruck der Sprache. Hier muss allerdings angemerkt werden, dass deren Schönheit auch nur beflügeln kann. Darüber hinaus ließen sie ihrerseits in der Führung der Puppen absolut nichts offen. Man kann nur spekulieren, welches Maß an Arbeit und Anstrengung hinter der unglaublichen Leichtigkeit und Eleganz, hinter der Verschmitztheit und der Tölpelhaftigkeit steckte, denn in der Wahrnehmung drängt sich naturgemäß immer die Puppe in den Vordergrund. Vollkommen ist die Illusion, wenn der Führer der Puppe, der eben noch eine eigene Figur aus Fleisch und Blut verkörperte, im Zeitraum eines Augenaufschlages beinahe unsichtbar wird.

Dieser Abend war ein Hochgenuss für all diejenigen, die Kindern gleich bereit waren, sich verführen zu lassen, sich der Illusion hemmungslos hinzugeben. Er war kurzweilig in seiner Witzigkeit und machte nachdenklich in seinem liebevollen Umgang mit einem Thema, das in der Realität Vernunft, Respekt und Toleranz noch immer in höchstem Grad vermissen lässt, obwohl Pierre Carlet de Marivaux es erschöpfend erklärt hat. Es liegt an uns, diese Vernunft, den nötigen Respekt und die notwendige Toleranz aufzubringen, um zumindest das Feld der Liebe, der Zuneigung und der Sexualität nicht zum Schlachtfeld verkommen zu lassen. Am Ende wurden die Crash Test Dummies in ihre Einzelteile demontiert und fein säuberlich abgelegt. Der Rest lag beim Betrachter.

Wolf Banitzki

 


Der Streit

von Pierre Carlet de Marivaux
Deutsch von Peter Stein

Nikolaus Habjan, Manuela Linshalm, Oliver Nägele, Arthur Klemt, Mathilde Bundschuh, Musiker (live) Kyrre Kvam

Regie und Puppenbau: Nikolaus Habjan

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