Cuvilliés Theater Am Kältepol – Erzählungen aus dem Gulag von Warlam Schalamow


 

Große Literatur mit erschütternder Wirkung

Was bereitet wohl mehr Entsetzen, das Leid, welches dem Menschen im Verlauf der Geschichte periodisch immer wieder zugefügt wurde, oder die Fähigkeit von Menschen, anderen Menschen dieses Leid anzutun? Wohl letzteres, denn wenn es die Fähigkeit nicht gäbe, gäbe es vermutlich auch nicht diese Überfülle an menschlichem Leid weltweit. Wie reagiert der Mensch, wenn er mit diesen Tatsachen und ihren konkreten Folgen konfrontiert wird? Er verdrängt, leugnet, schaut weg, um den Verstand nicht zu verlieren, oder er ergreift die Flucht. So geschehen im Cuvilliéstheater am 6. März (zweite Vorstellung) während der Aufführung von „Am Kältepol – Erzählungen aus dem Gulag“ von Warlam Schalamow. Leider sind diese Selbstschutzmechanismen ein wesentlicher Grund dafür, dass diese barbarische Geschichte über eine ungebrochene Kontinuität verfügt. So bleibt nur inständig zu hoffen, dass wir selbst von derartigen Schicksalen nicht ereilt werden. Dabei wäre es  doch besser, endlich eine gesellschaftliche Ordnung zu errichten, die der Barbarei endlich ein Ende bereitet und der Mensch, das Übergangswesen vom Tier, endlich Mensch im Sinn von vollendetem Wesen wird.

Warlam Schalamow (1907-1982) hat fast achtzehn Jahre seines Lebens im sowjetischen GULag verbracht, wobei er dem Tod häufig näher war als dem Leben. Die unermesslichen Leiden, die er am eigenen Leib erlebte, die auch seinen Leidensgenossen widerfuhren, dokumentierte er in dreiunddreißig Kurzgeschichten: „Erzählungen aus Kolyma“. Sechs davon brachten sechs Schauspielerinnen in einer fünfundsiebzigminütigen Lesung, begleitet von einer abgekoppelten szenischen Darstellung zu Gehör. Der russische Regisseur Timofej Kuljabin hatte für seine theatrale Umsetzung einen alten, rostigen Kühlcontainer auf die Bühne des Rokokotheaters gebracht, in dem die Schauspielerinnen wortlos das Gelesene verbildlichten. Übertragungen (David Müller - Live-Kamera) auf eine große Leinwand im Bühnenhimmel fokussierten die Vorgänge soweit, dass gelungene Illusionen von einer verschlissenen Gefangenenbaracke oder der unerbittlichen sibirischen Kälte entstanden. (Bühne Oleg Golovko)

Die Damen des Ensembles, in verschmutzte, zerlumpte, wattierte Kleidung gemummt, mit rostigen Werkzeugen oder Brennholz, hier ein mächtiges Sinnbild des Überlebens, hantierend, spielten weniger Vorgänge, sondern verbildlichten vielmehr peinvolle Zustände. Es oblag dem Zuschauer, die psychologischen Innenansichten aus den dargestellten Andeutungen aufsteigen zu lassen. Dabei gerieten einige Zuschauer an ihre Grenzen und verließen das Theater, denn die beklemmenden Eingebungen, resultierend aus dem Spiel und vor allem aus den Texten, waren zwingend. Es ist schwer vorstellbar, dass die Zuschauer aus anderen Gründen ihr Heil in der Flucht suchten.

  Am Kaeltepol  
 

Anna Graenzer, Sibylle Canonica, Hanna Scheibe

© Matthias Horn

 

Schalamows Texte sind eine herausragende literarische Form der Dokumentation. In einer stark sinnlichen und bildgewaltigen Sprache erzählte er gänzlich ohne emotionale Kommentierung kleine Geschichten, in denen der Mensch auf das Animalische, das Lebenserhaltende reduziert wurde. Das Maß der Reduktion ist kaum vorstellbar, kaum denkbar und es wird erst durch die äußeren Umstände erklärt. Gefühle haben in Schalamows Texten keinen Raum, denn Gefühle sind zum Hunger, zur Kälte und zu absurder Willkür gleichsam eine zusätzliche Bedrohung für die Häftlinge. In diesen Texten findet eine Entgrenzung statt, die über die normale Vorstellung weit hinausgeht. Dabei verzichtete der Autor gänzlich auf detaillierte Ausschmückungen, die den Horror auf die Spitze treiben und den Leser überwältigen würden. Es ist schlichtweg große Literatur, ein erschütternder Extrakt aus Blut, Schweiß und Tränen. Dabei tritt der Dichter selbst nicht in Erscheinung; die Realität spricht allein und für sich. Es gibt in den Geschichten kein Mitleid, keinen Optimismus oder Trost. Damit bekommt das philosophische Postulat Schalamows eine extreme Fallhöhe. Doch wer will es ihm absprechen. Das könnte nur jemand, der mehr und Schlimmeres durchlitten hat, was kaum vorstellbar ist.

Es war ein grandios bitterer Theaterabend, dessen Sinn unbestritten ist, denn wir leben noch immer in derselben Welt. Auch sind die alten neuen Verursacher noch immer und schon wieder da. Im Bann dieses Theaterabends drängen sich unweigerlich Vergleiche auf, wie politische Führer die Grundgesetze oder Verfassungen ändern, um sich lebenslange Macht zu sichern, wie sie Menschen in Geiselhaft nehmen, um andere Menschen oder ganze Nationen zu erpressen und daraus tatsächlich politisches Kapital schlagen. Die Welt macht mit oder schaut weg, wenn sich weltweit neue Lager bilden, seien es Flüchtlingslager, Internierungslager oder Straflager, in denen missliebige politische Gegner gefoltert und zu Tode gebracht werden.

Über diese Inszenierung sollte nicht geredet, sondern sie sollte angeschaut werden. Jeder Versuch einer Stellungnahme hieße, das Gesehene und Erlebte zu zerreden, es zu verwässern oder zu banalisieren. Die Monstrosität des menschlichen Wesens, wie es fraglos auch existiert, sollte an dieser Stelle nicht analysiert werden, denn jeder Erklärungsversuch wäre eine Steilvorlage für Rechtfertigungsbemühungen, zumindest im Kontext eines Kunstwerkes. An dieser Stelle verbietet es sich geradezu, denn wir stehen einem Menschen, einem Künstler gegenüber, das alles das, was ausgesprochen, was geahnt und vermutet wird, erlebt und durchlitten hat. Soviel Respekt sollte an dieser Stelle sein.

In der Gesellschaft sollte der Diskurs unbedingt stattfinden und er sollte endlich einmal Konsequenzen haben. Eine könnte sein, dass wir die neuen Potentaten oder auch potenten Massenmörder bei ihren Namen nennen, ihnen die Stirn bieten und nicht mit ihnen verhandeln, noch ihnen behilflich sind bei ihrem schmutzigen Geschäft. „Am Kältepol – Erzählungen aus dem Gulag“ fordert dazu auf, zumindest kann man es so verstehen.

Wolf Banitzki

 


Am Kältepol – Erzählungen aus dem Gulag

von Warlam Schalamow
Deutsch von Gabriele Leupold

Nora Buzalka, Sibylle Canonica, Pauline Fusban, Anna Graenzer, Hanna Scheibe, Charlotte Schwab, David Müller Live-Kamera

Regie Timofej Kuljabin