Cuvilliés-Theater Die Bakchen - lasst uns tanzen von Peter Verhelst nach Euripides


 

Keine frohe Botschaft

Die Ordnung Thebens ist in Gefahr. Ein Mann namens Dionysos ist vor den Toren der Stadt erschienen. Er behauptet, ein Gott zu sein, nennt Zeus seinen Vater. Er besucht das zerstörte Haus und das Grab seiner Mutter Semele, die, nachdem sie des Antlitzes des Göttervaters für einen Augenaufschlag lang ansichtig geworden war, in Flammen aufging und verbrannte. Zeus rettete den Fötus, mit dem die Frau schwanger ging, und trug ihn in seinem Oberschenkel aus. Der junge Gott kam nicht nur nach Theben, um den Griechen die neue Religion zu bringen, sondern auch um Rache zu nehmen für die Mutter. Im Gefolge die Bakchen, eine ständig wachsende Schar Frauen, die in dionysischer Ekstase ihren neuen Gott feiern. Berauscht vom Wein, zerrissen sie dabei auch schon mal das ein oder andere Lebewesen, um es zu verinnerlichen, wie einst Zeus den noch ungeborenen Dionysos.

Die Altvorderen von Theben, der blinde Seher Teiresias und der Ex-König Kadmos, Gründervater der Stadt, sind ebenfalls vom Tanzvirus angesteckt und bereit und willens, sich in das Getümmel der Weiber in den Bergen zu stürzen. Doch Pentheus, der junge König sieht in dem Treiben eine existenzielle Bedrohung: „In schattigen Wäldern, feiern diesen neuen Gott / Dionysos, wer er immer ist, im Reigentanz. / Und volle Krüge stehen mitten in dem Kreis / Des Gelags; und eine duckt sich da, die andre dort / An geheime Plätze und gibt sich Männern hin zur Lust, / Sich stellend als im Gottesdienst Begeisterte – / Doch Liebeslust gilt ihnen mehr als Schwärmerei.“ Mitten im verderblichen Treiben der Bakchen an vorderster Front: Agaue, die Mutter von Pentheus.

Pentheus, der eine vernunft- und nicht rauschgesteuerte Welt präferiert, gibt Befehl, den vermeintlichen Gott festzusetzen. Der folgt dem Häscher erstaunlich willig und disputiert mit Pentheus über seine göttliche Herkunft und Berufung und versucht ihn von seiner Macht zu überzeugen. Am Ende gelingt es Dionysos, Pentheus in Frauenkleidern verborgen in die Berge und zu den Bakchen zu locken, wo er Opfer der eigenen, vom Rausch geblendeten Mutter wird. Im Angesicht der Bluttat rät Dionysos den entsetzten Thebanern mit Nachdruck, sich in das Unvermeidliche zu schicken und ihn als neuen Gott anzuerkennen: „So fügt euch endlich dem, was unabwendbar ist.“ Euripides wurde wegen des warnenden Stückes, auch er sah den Bestand der griechischen Demokratie und Herrschaft gefährdet, angefeindet und ging in das makedonische Exil, wo er 406 v.Chr. starb. 405/404 v.Chr. war Athens Herrschaft Geschichte, der Attische Seebund zerbrochen. Die Athener mussten sich den Spartanern unterwerfen. Auch sie hatte die warnenden Worte ihres Dramatikers geflissentlich überhört.

Regisseur und Choreograf Wim Vandekeybus brachte das antike Drama in einer leicht spezifizierten und gekürzten Fassung von Peter Verhelst auf die Bühne des Cuvilliés-Theaters. Dabei ging es ihm weniger um eine politische Botschaft, als vielmehr um die Monstrosität menschlichen Treibens unter den Vorzeichen von Religion, Machtanspruch und Rachegelüsten. Nüchtern betrachtet wird augenscheinlich, dass es sich hier nicht um eine untergegangene, mythische Welt handelt. Im Angesicht von internationalen Kriegen und zahllosen lokalen bewaffneten Konflikten, egal ob religiös begründet oder reinem Okkupationswillen folgend, wird schnell klar: es ist durchaus ein zeitgenössisches Thema. Potentaten und Tyrannen gebärden sich wie beleidigte Götter, einst homogene Völker sind in sich verstritten und massakrieren sich wegen ideologischer oder religiöser Spitzfindigkeiten und nahezu jeder sucht sein Heil in Nationalismus und Protektionismus.

  Die Bakchen  
 

René Dumont, Till Firit, Borna Babić, Zoe Gyssler

© Danny Willems

 

Wim Vandekeybus ist bekannt dafür, kein reines Sprechtheater zu inszenieren, sondern möglichst viele künstlerische Ausdrucksformen miteinander zu verquicken, um damit nicht zuletzt die Komplexität menschlichen Handelns auch in den nicht vordergründigen Facetten sichtbar zu machen. Für seine Münchner Inszenierung zog er die Kompagnie „Ultima Vez“ hinzu. Neben dem flämischen Schriftsteller Peter Verhelst, der, wie bereits erwähnt, den Text von Euripides für dieses Bühnenwerk adaptierte, verpflichtete er den Musiker und Komponisten Dijf Sanders, der den großen Stoff akustisch analysierte und kommentierte und zugleich die Rhythmik für den tänzerischen Part lieferte.

Heraus kam ein penibel durch choreografiertes Tragödientheater, das wuchtig den Raum füllte und eine Vielzahl von visuellen Reizen bot, dem zu folgen nicht immer leicht war. Und als ob der Reize noch nicht genug waren, schuf Vandekeybus zusätzlich noch eine bildnerische Seite. Er ließ den Maler Vincent Glowinski auf den großen weißen Flächen des abstrakten, aus zu- und gegeneinander komponierten grafischen Flächen bestehendes Bühnenbildes (Vincent Glowinski & Wim Vandekeybus) live malen. Dieser Vorgang war durchaus auch artistisch, denn Glowinskis weiße Fläche reichte bis hoch in den Bühnenboden und so stürzte er sich malend bisweilen auch kopfüber die Leinwand hinab.

Dominiert wurde der Theaterabend von den rauschhaften Elementen, tänzerisch beinahe durchgängig präsent und in Intervallen mehr oder weniger befeuert vom Sound der Musik. Immer wieder wurde sichtbar, dass einzelne Figuren die Kontrolle über sich verloren oder zum Spielball ekstatischer Abläufe wurden. Die Thebaner, die dem Treiben (noch) skeptisch gegenüberstanden, waren anfangs weiß gekleidet, die Bakchen agierten in Schwarz. (Kostüme Isabelle Lhoas) Die Offenbarungen des Gottes Dionysos muten anarchisch an, vor allem aber sprengten sie stets die Grenzen, zerstampften das Althergebrachte und verhöhnten vermeintlich eherne Regeln. Selbst der Tod oder die Tötung hatte einen festen Platz im Ritus. Feines psychologisches Theater fand eher weniger statt, dazu waren die Bilder zu groß, zu wuchtig und zu schreiend. Die Tänzer übernahmen den Part, den seelischen Zuständen körperlichen Ausdruck zu verleihen.

Es fand dennoch auch Sprechtheater statt. So hatte Wolfram Rupperti in der Rolle des Kadmos die Möglichkeit, das Bild eines guten Herrschers zu entwerfen. Dabei wurde offenbar, dass seine Auffassungen sich deutlich von denen des Pentheus unterschieden. Für Till Firit war diese Rolle die eines dem Untergang geweihten Monarchen und somit eine schmerzvolle und verzweifelte. Der blinde Seher Teiresias, gespielt von René Dumont, brach einen Stab für den neuen Gott, den Pentheus „fremder Gaukler, Zauberer und Betrüger“ nannte. In Demeter, der Göttin, die dem Menschen Nahrung schenkt, und in Dionysos, den Erfinder des Rebensaftes, der „Tröstung mühbeladner Sterblicher im Grame“, aber auch „Schlummer“ spendet und des „Tages Hitze und Last“ vergessen macht, sah Teiresias die Dualität des Lebens, die freien Willens und offenen Herzens angenommen werden sollte. Doch es gab kein Happy End und als Agaue, gestaltet von Sylvana Krappatsch, erkennen musste, dass sie den eignen Sohn getötet und damit das Geschlecht Kadmos ausgelöscht hatte, blieb ihr nur noch das kummervolle Exil und das Vergessen.

Wim Vandekeybus ließ beinahe sämtlicher Darsteller in die unterschiedlichsten Rollen, vor allem die des Dionysos schlüpfen, was zur Folge hatte, dass die Orientierung gelegentlich beeinträchtigt war. Doch da die im Euripidesschen Drama enthaltenen Intrigen, Kabalen und dramaturgischen Konstellationen ohnehin auf das Wesentlichste reduziert waren, blieb die Geschichte übersichtlich. Zuletzt triumphiert ohnehin nur einer, Dionysos, der, ausgestattet mit der Kraft des Vaters Zeus, tat, was getan werden musste: „Das sprech ich nicht als eines irdischen Vaters, nein, / Als Sohn des Zeus! und hättet ihr, als euch es nicht / Gefiel, zur Demut euch entschlossen, euer Hort / Verblieb der Zeussohn, und ihr konntet glücklich sein!“ Eine „frohe Botschaft“ war es nicht, auch nicht auf den Bildern von Vincent Glowinski. Hier triumphierte zuletzt das Animalische, das Stierköpfige, das Bocksbeinige und mitten im letzten Bild prangte ein gewaltiger Penis wie ein überlegener Sieger, an dem niemand vorbei kommt.

Es war ein aufregender, bild- und tongewaltiger Theaterabend, der vom Premierenpublikum zu Recht frenetisch gefeiert wurde. Eine einfache Botschaft gab es nicht, vielmehr ein Hinweis darauf, dass es keine simplen Botschaften gibt. Zu vielfältig sind die Kräfte, die wirken, zu wirkmächtig sind die Argumente derer, denen die (physische) Übermacht gegeben ist und zu schlicht ist der Geist der Menschheit, alles, das Gute wie das Böse, immer durchschauen zu können. Und doch sollte nicht akzeptiert werden, dass es eine einzige Allmacht gibt, die uns in einer Schicksalhaftigkeit gefangen hält. Soweit zumindest sollten wir über den Mythos hinaus gelangt sein.

Wolf Banitzki

 


Die Bakchen - lasst uns tanzen

von Peter Verhelst nach Euripides

Borna Babić, René Dumont, Till Firit, Vincent Glowinski, Zoe Gyssler, Sylvana Krappatsch, Horacio Macuacua, Aymará Parola, Wolfram Rupperti, Dijf Sanders, Niklas Wetzel

Regie & Choreographie: Wim Vandekeybus