Cuvilliéstheater Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes von Roland Schimmelpfennig
Alptraumspiel
Nach „Die Götter weinen“ kam nun mit „Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes“ erneut das Thema Kolonialismus und Dritte Welt auf die Bühne des Cuvilliéstheaters. Roland Schimmelpfennigs Stück erzählt die Geschichte allerdings aus einer völlig anderen Perspektive, nämlich aus der Innenperspektive der Protagonisten. Das Programmheft, in der Regel eine sinnvolle Ergänzung zum Verständnis der Geschichte, zitiert Prof. Dr. Andreas Eckert (Er forscht u.a. über die Geschichte Afrikas im 19. und 20 Jahrhundert.) zum Thema. Der ausgewählte Text unterbreitet in bester Talkshowmanier einen Meinungspluralismus, der keine Antworten zu geben vermag. Aber was macht das Nachdenken und Forschen für einen Sinn, wenn daraus keine Antworten resultieren? Schimmelpfennig tut das sehr wohl, und es ist anzunehmen, dass er der Wahrheit nahe kommt. Einmal mehr zeigt sich die Überlegenheit von Dramatik, die in ihrer Bi(multi)-Polarität einen Dialog zu führen vermag, da die Protagonisten noch Haltungen und Weltanschauungen haben (können). Der Dialog ist bekanntermaßen der effizienteste Erkenntnisprozess.
Carol und Martin sind nach sechs Jahren vom afrikanischen Kontinent heimgekehrt, wo sie als Mediziner in einem Hilfsprojekt gearbeitet haben. Studienkollegen und Freunde Liz und Frank empfangen die Heimkehrer. Liz hat vorgekocht und Frank kredenzt den Wein. Doch noch ehe der Abend der Begegnung nach so langer Zeit beginnt, konstatiert Frank rückblickend: „Es war eine komplette Katastrophe. Ein absolutes Desaster“. Im Grunde war das folgende Spiel die Erklärung dieses Satzes. Was also war so desaströs? Die Erlebnisse in Afrika? Der Umgang mit humanistischer Verantwortung? Die Schlangen, Spinnen, Moskitos etc.? Das HIV-Virus? Nein, das wahrhaft verstörende waren die Einsichten über das Scheitern der eigenen Lebensentwürfe. So stellt Liz tief betroffen fest, dass, während andere Menschen anderen Menschen in tiefster Not helfen, sie das Garagentor öffnet und schließt, um zu schauen, ob Frank bereits im vorzeigefähigen Eigenheim angekommen ist. Im Gegenzug artikuliert sie heftige moralische Empörung darüber, dass Menschen fähig sind, ein Kind im Stich zu lassen, wenn sie ihre eigene Haut retten müssen. Frank hält sich in allem zurück. Er ist der Mann ohne Eigenschaften, erfolgreich nach eigenem Dafürhalten, eloquent genug, jedes noch so verfahrene Situationsschiff in lustiges Fahrwasser zu bugsieren.
Carol stellt im Gegenzug verbittert fest, dass sie weder ein Haus, schon gar keine Garage und erst recht keinen Job haben. Wozu war das alles gut? Die Sinnlosigkeit des Unterfangens „Hilfe für die dritte Welt“ (Darauf muss politisch korrekt reflexartig geantwortet werden: Es gibt nur eine Welt!) steht beiden in die unendlich müden Gesichter geschrieben. Sie habe in Afrika nicht nur ihren Idealismus ruiniert, sondern auch ihre Ehe und wohl auch ihre Gesundheit. Einiges spricht dafür, dass sie HIV infiziert sind. Doch man weiß es nicht, denn niemand will sich untersuchen lassen.
Wie der tatsächliche Gesundheitsstatus, blieb auch alles andere unaufgeklärt. Weder erfuhr der Betrachter etwas über den Ort, an dem beide sich sechs Jahre aufhielten, noch über die Art der vorherrschenden Krise. Das tat im Grunde auch nichts zur Sache, denn es ging nicht darum, Afrika oder den Charakter eines Engagements in Afrika zu erklären. Vielmehr wurde eine Bestandsaufnahme darüber geleistet, was Afrika und was ein Engagement mit den Menschen machen, die sich darauf einlassen. Ihre Erscheinung, nach z.B. sechs Jahren Aufenthalt im „Herzen der Finsternis“, erklärt mehr über die Zustände als jede Erhebung, jede wissenschaftliche Untersuchung oder jeder Dokumentarbericht.
Naturgemäß blieb auf der Bühne vieles unausgesprochen oder nur angedeutet. Regisseur Martin Kušej fühlte sich mit dem Text von Schimmelpfennig ganz augenscheinlich wohl. Er ließ sich Zeit im Ablauf, verstellte das gesprochene Wort nicht mit artifiziellen Posen, überhöhte Realistisches und schuf so ein Traumspiel, das eigentlich Alptraumspiel genannt werden müsste. Die Bühne von Anette Murschetz unterstrich diesen Anspruch, denn in ihr war nichts, woran oder worin Halt zu finden war. Der blendend weiße Schaukasten mit dunklem Hintergrund hätte alles Mögliche sein können, nur nicht Wohnraum. So wurde er letztlich zum Ausstellungsraum für pathologische Zustände mit abgründiger Aussicht für den, der sich umschaute. Und nachdem beinahe alles angedeutet war, ergoss sich plötzlich eine gewaltige Menge Zivilisationsmüll in diese, auf den ersten Blick, saubere Welt. Das symbolistische Bild war nicht sonderlich diffizil, man kennt es von Martin Kušej zur Genüge. Immerhin war es effizient genug, um das Bild von der saturierten bürgerlichen Welt auf drastische Weise abzurunden. Dieses Bild war wohl auch das Ziel von Roland Schimmelpfennig. Bei genauerer Betrachtung drängte sich konsequenterweise die Frage auf, wer wir eigentlich sind, dass wir von uns glauben, anderen Menschen helfen zu können? Wir selbst sind längst zu Hilfebedürftigen mutiert.
Maren Eggert, Norman Hacker, Sophie von Kessel, Ulrich Matthes © Arno Declair |
Da es sich um eine Koproduktion mit dem Deutschen Theater handelte, hatte Martin Kušej auch Zugriff auf das Berliner Ensemble. So vereinte er in seinem Darstellerquartett Schauspieler höchsten Niveaus miteinander. Aus Berlin wurden Maren Eggert und Ulrich Matthes für diese Produktion verpflichtet. Maren Eggert spielte eine bedrückend dünnhäutige Liz, deren Vielfalt im Ausdruck Staunen erzeugte. Ihre Liz stand für alles, was als tradierte Werte über uns gekommen ist: Wille zur Solidarität, Menschlichkeit und Wunsch nach Gerechtigkeit. Allen diesen idealistischen Merkmalen vermochte sie Ausdruck zu verleihen, und sei es manchmal nur aus einer fundamentalen Mütterlichkeit heraus. Der von Ulrich Matthes verkörperte Frank war eine wenig facettenreiche Rolle. Doch Matthes gelang mit präzisem Spiel, die Figur einer eindeutige Definition zu unterwerfen, was etwas heißen will, da es sich um einen Menschen handelte, der wenig prägnant war und, wie bereits erwähnt, keine wirklichen Eigenschaften aufwies. Sophie von Kessel gab eine physisch gezeichnete, ausgebrannte, hoffnungslose Carol. In ihrer Verzweifelung schlug sie um sich und demonstrierte dem Publikum, wie sich wahre Perspektivlosigkeit anfühlt. Norman Hackers Martin war jemand, der sich aus dem Leben bereits verabschiedet hatte. Einladungen, wie die auf der Bühne gezeigte, vermochte Martin nach eigener Aussage nur mit einem gehörigen Maß an Alkohol zu überstehen. Betrunkene spüren den Schmerz geringer. Norman Hacker trieb es so lange rastlos, aggressiv und an sich selbst wohl am wenigsten leidend über die Bühne, bis ihn der Alkohol schließlich niederstreckte.
Der Abend war hochkonzentriertes, verstörendes Theater mit sehenswerten Darstellern. Er war nicht unbedingt immer unterhaltsam, aber dennoch nie langatmig. Die Inszenierung lebte davon, dass dem Publikum platte Realismen, politische Statements und moralische Endgültigkeiten erspart wurden. Trotz der fortwährenden Innenschau der Personen und ihrer ununterbrochen artikulierten Bewusstseinsströme entstand ein tieferes Verständnis für die Welt der Äußerlichkeiten, der hiesigen und der fernen. Es war solides und trotzdem besonderes Theater.
Der Abend war hochkonzentriertes, verstörendes Theater mit sehenswerten Darstellern. Er war nicht unbedingt immer unterhaltsam, aber dennoch nie langatmig. Die Inszenierung lebte davon, dass dem Publikum platte Realismen, politische Statements und moralische Endgültigkeiten erspart wurden. Trotz der fortwährenden Innenschau der Personen und ihrer ununterbrochen artikulierten Bewusstseinsströme entstand ein tieferes Verständnis für die Welt der Äußerlichkeiten, der hiesigen und der fernen. Es war solides und trotzdem besonderes Theater.
Wolf Banitzki
Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes
von Roland Schimmelpfennig
Maren Eggert, Norman Hacker, Sophie von Kessel, Ulrich Matthes Regie: Martin Kušej |