Cuviliès Theater Andromache von Jean Racine


 

 

 

Zu viele Knochen und zu wenige Menschen

"Andromache" war Racines erstes Meisterwerk. Es gilt heute gemeinhin als die erste große Charaktertragödie Frankreichs. Da Racine um die neue Tonart seines Theaters wusste, studierte er die Hauptrollen sieben Monate lang mit den Darstellern ein. Das verärgerte seinen Förderer Molière, dem Racine die große Tragödin Du Parc für die Rolle der Andromache ausgespannt hat. Molière rächt sich, in dem er im selben Jahr 1664 eine Parodie, angefüllt mit Possen, auf Racines "Andromaque" herausbrachte. So blutrünstig kann Theater sein. Immerhin haben Molières Werke frisch und munter überlebt, sind in allen Spielplänen dieser Theaterwelt zu finden. Die Aufführung eines Werkes von Racine außerhalb von Frankreich gilt hingegen immer wieder als Wagnis. Das ist wohl drauf zurückzuführen, dass man eine Menge in die Stücke Racines hinein interpretieren muss, um einen Zeitbezug erkennen zu können. Die hochgelobte Charaktertragödie ist, das wird der Zuschauer sicherlich erfühlen, nicht wirklich in dieser Welt angesiedelt.

Racine war ambitionierter Provinzler, stammte aus der Champagne, und brachte es immerhin bis vor das Antlitz Ludwig XIV. Geprägt durch seine Jansenistische Ausbildung in den theologischen Wissenschaften, neigte er dazu, sich der größten Themen der Menschheitsgeschichte anzunehmen. Seine überlebensgroße Heroik kann den Geist von eitlen Kleinstadtgymnasien nie ganz verleugnen. Vollendet in (französischsprachiger) Form, feinfühlig selbst in blutigsten Augenblicken der Handlung und mit einem augenscheinlich gestörten Verhältnis zum Eros hinterlassen seine Werke lediglich ein vages Gefühl von humanistischer Gesinnung. In ihrer Ausweglosigkeit wirken sie eher verstörend als hilfreich.

 

 

Ulrike Arnold, Eva Schuckardt

© Thomas Dashuber

 

In "Andromache" wird die Geschichte um die Witwe des trojanischen Königssohns Hektor erzählt, die als Sklavenbeute gemeinsam mit ihrem Sohn Astyanax dem Nachfahren Achilles, zugesprochen wurde. Pyrrhus, in der Mythologie besser als Neoptolemos bekannt, König von Epirus, liebt Andromache. Er umwirbt die Frau, deren Familie er ausgelöscht hat. Sein Braut ist allerdings die Griechin Hermione, Tochter der Helena. Die liebt ihrerseits hingebungsvoll Phyrrus. Jetzt trifft der Atridensohn Orest auf der Insel ein, um einen politischen Akt zu vollziehen. Er wurde von den Griechen beauftragt, Astyanax, letzter Lebender aus dem Geschlecht Trojas, zur Opferung nach Sparta zu bringen. Die Griechen fürchten die Wiederauferstehung Trojas in der Person Astyanax. Orest wiederum liebt Hermione. So liebt jeder jeden, aber niemand kann Erfüllung finden. Dramaturgischer Dreh- und Angelpunkt ist der Konflikt der Andromache. Durch die Heirat mit Phyrrus, einem Hauptverantwortlichen am Untergang Trojas, könnte sie ihren Sohn und das Andenken Hektors, der tief in ihrer Liebe wohnt, retten. Am Ende ertrinkt alles im Blut.

Regisseur Hans-Ulrich Becker erzählte die Geschichte ganz im Geiste Racines. Politik löst sich in Leidenschaften auf und führt in die Katastrophe. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass es sich um die Denkungsart einer Gentilgesellschaft handelt, in der das Blut immer dicker war als Wasser. Politik hatte in diesem Kontext noch nicht viel mit Staatslenkerei zu tun. Insofern fragt man sich, warum das Stück von Becker mit einer Ernsthaftigkeit in Szene gesetzt wurde, als könnte sie Offenbarungscharakter haben. Im Grunde ist sie nicht mehr als ein mythisches Horrorstück für das Theater.

Alexander Müller-Elmau schuf dafür ein Bühnenbild, dass getrost als Plattitüde bezeichnet werden kann. Ein gewaltiger Berg von Gebeinen türmte ich in der Bühnenmitte auf, wenig einladend für die Darsteller, die ihn immer wieder wie Äquilibristen erklimmen mussten. Mancher Zuschauer litt hörbar mit. Die simple Zweidimensionalität, dass die Geschichte auf Gebeinen errichtet ist, hatte etwas peinliches. Insbesondere dann, wenn nach dem Tod einer Figur weitere Gebeine auf den Bühnenboden fielen.

Die zwei Stunden bereiteten dem Zuschauer wenig Höhepunkte. Immerhin war das Spiel Stefan Hunsteins sehenswert, dem es gelang, den im Zwiespalt von Liebe und politischem Amt hin- und hergerissenen König Pyrrus einige lebendige Farben zu verleihen. Er war in jeder Situation glaubhaft in seiner Gestaltung. Stefan Hunstein füllte die heroische Rolle als Sohn Archilles und den von Liebesgefühlen Gebeutelten mit durchaus heutiger Sprachgestaltung aus. Ebenso Marcus Calvin, dessen Orest als kaum bezähmbarer Heißsporn offenen Auges in die Katastrophe schlitterte. Ulrike Arnolds emotionsgeladene Darstellung der Andromache war zumindest in der ersten Hälfte heftig überzogen. Die Figur erzeugte, wenn überhaupt, viel Mitleid und verstellte so den Blick auf die Rolle im dramatischen Kontext. Susanna Simon spielte als Hermione den Part der begehrten Weiblichkeit, der eigentlich Ulrike Arnold zugefallen wäre. Es waren schlichtweg zu viele Knochen und zu wenige Menschen auf der Bühne. Wenn Regisseur Hans-Ulrich Becker eine Vision hatte, die das Publikum erhellen sollte, gelang es ihm gut, diese zu verbergen.


Wolf Banitzki

 

 


Andromache

von Jean Racine

Ulrike Arnold, Eva Schuckardt, Susanna Simon, Marcus Calvin, Stefan Hunstein, Helmut Stange

Regie Hans-Ulrich Becker