i-camp TOTAL von Bülent Kullukcu, Anton Kaun, Dominik Obalski
Wie Algorithmen unsere Welt formen oder Inflation der Nanoroboter
Elias (BGR), Raymond (US), Jean-Luc (F), Karl (D) und Antonin (F) versammelten sich auf einer kybernetischen Bühne, umringt von Hologrammen ihrer eigenen Intelligenz, der Intelligenz der gesamten Schöpfung. Zahnräder aller neuen Art drehten sich unaufhörlich, perpetituiv die Quadratur des Kreises reflektierend – Klaviermusik empfing uns und ich fragte mich, wo wohl der Flügel stand und wer der es bedienende Klavierspieler war?
Die Schrottpresse schrie es aus dem Dröhnen der Kakerlaken heraus: ein altes Instrument vergangener Evolutionsphasen, die Vollendung der Mechanik westlicher Musikinstrumente, ohne Gnade zermalmt, zerstückelt zu einem Haufen Holz und verworrenem Draht.
„Keine Gefühle sind in diesem Stück. Es gibt in diesem Stück nichts zu fühlen.“ Tatsächlich, wie die schwarzweiß spielenden Kinder anmuteten, kam ich diesmal nicht atemlos die Treppe hinauf, wie bei dem ersten Teil der Trilogie in der Galerie Kullukcu. "Die letzten Tage der Menschheit oder der Untergang der Welt durch schwarze Magie" hatte es ja im März geheißen.
Mein wiederholter Audit des Triumvirats Kullukcu-Kaun-Obalski ehrt mich und die Produktion, die sich heuer unter anderem als Musical-Meditation gut bei mir verkauft. Erneut erkenne ich erst etwa in der Halbwertszeit, dass der Klavierspieler tatsächlich die Tasten drückt und nicht nur etwa Requisite ist wie all die Modellsoldaten auf der Bühne der Grausamkeit. In der Schillerstraße hatte ich ja deren Live-Projektionen als Manifestation von Craigs Übermarionette gelobt.
Elias beschäftigte sich mit nicht nur menschlichen Massen, sondern auch Maßen. 1945 wäre die Atombombe das Maß aller Dinge geworden. Als transmutierter Schatz des Märchenkönigs wäre es simultan die Million. Jeder möchte diesen Schatz besitzen, und so lange die Inflation (nach Franz Hörmann historisch alle 70 Jahre fällig) erfolgreich zurückgedrängt werde - wie man anhand des Oktoberfestbieres stetig beobachten kann - hätte diese „kosmopolitischen Klang“. Elia's Algorithmus lautet: Inflation = Krieg = Evolution.
Raymond, der täglich seine um die 200 zusammen gestellten Vitampräparate aus der Plastiktüte schluckt – Zeit sparend und hinsichtlich seines undankbaren Familiennamens „Kurzweil“ sich asymptotisch der Unsterblichkeit annähernd – gab mit seinem Algorithmus Anlass zur Sprengung eines halben Mariannengrabens von Chicago bis New York. Ganz wie im zweiten Weltkrieg, nur eben den Dimensionen unserer Zeit angepasst – um, wie gewohnt, dem Wohle der Menschheit zu dienen – half uns seine Firma FatKat auf Jagd nach den Schätzen. Als kriegserfahrene Europäer wissen wir, dass ein enormer Wettbewerbsvorteil erlangt wird, indem Fiberglas-Kabel von Paris nach Wien verlegten werden, um ein Signal 35 mal schneller als wir mit der Maus klicken können zu übertragen. Als Märchenkönige müssten wir uns nie wieder spekulative Geschicklichkeit aneignen.
© Ulrich Stefan Knoll |
Kommen wir zum Jahr 2102. Überhaupt müssten wir überhaupt nichts mehr lernen. Einfach die Nanoroboter einatmen, die in der Luft schweben. In unseren Blutbahnen schwimmend uns direkt mit Burgern, Steaks oder Vegetarischer Kost versorgend, müssten wir auch nichts mehr essen und nicht mehr furzen. Wenn der Körper nur noch Plastik ist und 5% biologischer Rest, haben wir erkannt, dass das Universum eine spirituelle Maschine ist und den Maschinen unsere Menschenrechte zurück gegeben, die wir ihnen unrechtmäßig genommen hatten.
Rückblende. Irgendwann zwischen 2092 und 2066: „Der tanzende Körper ist ein Körper, der sich von sich trennt, um zu sich zu finden, der seine Form verlässt, um eine neue einzugehen, der einen Ort aufgibt, um einen anderen einzunehmen:“ Quantentheorie bei Jean-Luc. Mary Wigman tanzt uns „drohende, unermüdliche Präsenz“ unseres Körpers. Wie kommt es, dass unsere 2022 im Hinterkopf eingepflanzten iPads iclusive ihrer virtellen Realitäten genauso eine Verlängerung unseres Körpers darstellen wie Sterne, Galaxien, Superstruktur des Kosmos, welche wir erst durch den von Forschergeist untrennbaren Spionagesatelliten, der mitten auf der Bühne landete, wiederentdeckten?
Meine Begleitung fragte an der Bar, ob sie das Bier mit hinein nehmen dürfte. Freundlich wurden wir von Herrn Kaun eingeladen, die Kammern voll wummernden Erdbebens zu betreten. „Das Stück ist völlig körperlos. Das Stück blutet nicht. Du kannst dich in diesem Stück nicht hinsetzen und denken. Das Stück ist nicht gedankenlos, Das Stück ist nicht gedankenvoll, das Stück hier ist total“. Splash! Da landet eine Bierflasche durch ruckartiges Aufstehen eines Gastes auf dem Boden und zerschellt. Geschäftsführer Herr Hoffmann bittet das Paar, einzutreten, hebt die größte Scherbe auf, wie ein Totem. Der Zuschauerraum hält 20 Menschen, darunter eine ältere Dame, die vielleicht den Krieg miterlebt hat. Karl Kraus (A) jedenfalls hat sie nicht aus dem Saal verschrecken können, vielmehr zwei Theaterbesucher der jüngeren Generation. So viel Realität musste sein.
Die respektvolle Trilogie verlangte uns viel Mut, Ehrlichkeit und Toleranz ab, der Applaus kam erst nach 30 Sekunden Stille. Ja, die Stille. Das ist es, was wir schon lange vermisst hatten. Diese auszukosten empfehle ich Ihnen heute Abend. Optieren Sie morgen, Samstag, den 17. November zum nachträglichen Konzert mit Herren Kaun, Bürger, Beck, Acher.
Dominik Tresowski
TOTAL
Eine Theaterinstallation von Bülent Kullukcu, Anton Kaun, Dominik Obalski