i-camp Traumtexte von Heiner Müller


 
Ich spiele mehr als ich weiß

Das FTM – Freie Theater München - setzt seine Reihe „Autorenprojekte“ fort mit Heiner Müller, von dem sie bereits einige Texte inszenierten und weltweit zur Aufführung brachten. Die 1970 von Kurt Bildstein und George Froscher gegründete Gruppe spricht mit ihren Inszenierungen alle menschlichen Sinne an, verbindet viele Formen. Sie loten künstlerisch vielfältig und darstellerisch konsequent die Freiräume aus, welche das Theater bietet. Diesmal in ihrem Mittelpunkt: Der Schriftsteller Heiner Müller, schon zu Lebzeiten ein Klassiker. 1929 in Sachsen geboren, erlebte er das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg, die DDR und die neuzeitliche Bundesrepublik Deutschland - ein Geschichts- und Erfahrungsspektrum, das sich in allen seinen Arbeiten wiederfindet. Die Psyche des Menschen faszinierte ihn ebenso, wie Politik und Gesellschaft. 2009 erschien, posthum, eine Zusammenstellung persönlicher Notizen.

Die Wand mit dem Eingang bot dem Publikum zum Empfang eine Videoinstallation mit Bildern und Zitaten aus den bisherigen Heiner Müller Projekten des FTM. Der Zuschauer durchschritt sie, um in den Theaterraum zu gelangen und in die Welt des Schriftstellers einzutauchen. Traumfiguren erwarteten den Eintretenden hinter der Türe. Es war lange dunkel und still im Raum, ehe die ersten Schritte vernehmbar wurden. Die Texte begannen in seiner Jugendzeit, die er als „Ausländer“ (Sachse) in Waren in Mecklenburg verbrachte. Ausgrenzung sollte auch der prägende Faktor seines Werkes werden, bedingt diese denn auch literarisches Schaffen. Enthielten die Passagen des Werkes zu Beginn noch durchaus persönliche Erlebnisse, gleich einem Tagebuch, so wurden sie im Laufe der Zeit, den Lebensphasen entsprechend, immer mehr auch zu philosophischen Reflektionen.
Die Schauspieler, alle gleich gekleidet in Schwarz, trugen abwechselnd oder gemeinsam, gleich einem antiken Chor vor. Präzise Artikulation bestimmte ebenso den Tonfall, wie feine Nuancierungen – ein Spiel mit und um die deutsche Sprache. Ihre Körperhaltung war zurückgenommen, die Gesten fein, bisweilen tänzerisch. Heiner Müller? Das Publikum saß ihm gegenüber und auch seinem Alter Ego, wenn Gabriele Graf mit Mikrophon von der Tribüne sprach. Es erlebte eine geschlossene vielschichtige grandiose Vorstellung, die durch Spiel mit Licht- und Toneffekten abgerundet war.

Eine der Sequenzen der Inszenierung handelte vom Vergessen. Der Chor der Darsteller, im Gleichschritt auf das Publikum zugehend, intonierte stakkatoartig: Vergessen – Vergessen – Vergessen - ... „Vergessen ist konterrevolutionär, denn die ganze Technologie drängt auf Auslöschung von Erinnerung.“ H.M. Wie wahr dies ist, ist leicht zu erkennen. Man will die Menschen vergessen machen und überflutet sie durch Fernsehen, Zeitungen und Internet mit Aktuellem, welches für das Heute steht und bereits morgen ad absurdum geführt wird und ebendas Vergessen zu machen, fordert neue Überflutung. Die Flutwelle wird immer höher, breiter, größer, umfassender - der tägliche Tsunami aus Milliarden und Abermilliarden zu Worten und Sätzen gesetzten Zeichen und zusätzlich ein „Absaufen in der Flut der Bilder“. Was war gestern? Vergessen ... vergessen? So wird die Revolution, als Möglichkeit einer Veränderung, erstickt im Vergessen. Die Darsteller traten bis unmittelbar vor das Publikum heran, suggestiv.

  traumtexte  
 

Alexander Brandl, Dominik Schuck

© Ulrich Stefan Knoll

 
 
Es sind keine fertigen Texte, es ist eine Zusammenstellung von festgehaltenen Gedanken, Psychogrammen, veränderten Erinnerungen und obsessiven Gelüsten, die auf die Bühne kamen. Müllers Kommentar zu Träumen: „Der ganze Sinn jeder künstlerischen Anstrengung ist den eigenen Träumen nachzujagen - im Traum ist jeder ein Genie und dem jagt man nach. ... Die Hauptarbeit besteht darin, dass man seine Träume beim Schreiben einholt, was unmöglich ist. Man kann sie nie so präzise und zugleich komplex notieren, wie man sie träumt.“ Das könnte auch für den Versuch der Darstellung von ebendiesen Träumen auf einer Bühne gelten. Doch wie Müller den Trauminhalten durch seine Texte außergewöhnlich nahe kam, so kam auch das FTM diesen durch ihre Umsetzung in Konzept, Regie und Darstellung außergewöhnlich nahe. Sie fassten die Worte in Figuren, führten sie zurück zu Bildern und hauchten ihnen so Leben ein. „Am Anfang war das Wort ...“, heißt es in der Bibel und dieser Satz kann auch für die Aufführung gelten. Ob nun für den Schriftsteller am Anfang das Wort stand, beispielsweise das in den als Kriegsbeute gewonnen Dünndruckausgaben von Kant und Schopenhauer, Bücher, die auch ihrer äußeren Schönheit wegen besitzenswert erschienen, oder ob es die Bilder seiner Träume waren, kann mit der Frage gleich gestellt werden: Was war zuerst, das Huhn oder das Ei? Die Inszenierung schloss auf adäquate Weise diesen Kreis.

Es stehen nun auch in diesem Text eine Reihe von Zitaten Müllers, welche bereits wieder und wieder wiederholt wurden. Doch es bleibt nur sein Wort, denn es treffender oder genauer ausdrücken zu wollen, ist ein ebenso unsinniges Unterfangen, wie die Zusammenhänge von Psyche, Traum und Realität neu erfinden zu wollen. „Ich werde wiederkommen, außer mir“, schrieb Kurt Bildstein mit weißer Kreide an die schwarze Wand. Er schaute auf die Figuren des Lebenstraumes und wie einer Sehnsucht folgend und leer geträumt und geschrieben, setzte er sich, aller Träume entkleidet, zu ihnen. Am Ende saßen die Darsteller still auf dem Boden, zerrissen Blätter, warfen sie in die Luft, harrten aus, um schließlich gemeinsam abzugehen. Der Traum war zu Ende, was sichtbar blieb, waren die zerstückelten Texte schwarz auf weiß und ein Konterfei auf dem Bühnenboden. Heiner Müller ist nie wirklich gegangen, er lebt in seinen Texten zwischen und mit uns. Das ist die Gnade und/oder der Fluch der Unsterblichkeit.
So galt der begeisterte Applaus dem gesamten Werk, ein grandioser Abschluss, eine außergewöhnliche starke Geste.


 

 


Traumtexte

von Heiner Müller

FTM Projektfassung von George Froscher nach dem gleichnamigen Text von Heiner Müller

Gabriele Graf, Kurt Bildstein, Alexander Brandl, Christopher Goetzie, Martin Petschan, Leo Schild, Dominik Schuck, Christian Smigielski

Regie, Video, Raum, Kostüme: George Froscher
Organisation, Technik: Kurt Bildstein
Assistenz: Gabriele Graf
Licht: Michael Bischoff