Kammerspiele Neues Haus Morning in Byzantium von Trajal Harrell
Ein Übermaß an Ästhetik
Walter Hess spricht. Er spricht über sich, denn sein jüngeres hochpotentes Ich ist gerade aufgetreten, auf Zehenspitzen, schwebend und doch schleppend, als drücke Mühsal ihn nieder. Ihm folgen auf denselben Pfaden in derselben Pose alle anderen Darsteller des Abends. Das Areal, Bühne von Erik Flatmo und Trajal Harrell, eine schneeweiße Spielfläche, darauf zwei Podeste, eines mit einem Springbrunnen im Japanstyle ausgestattet, wird abgeschritten, ausgelotet, in Besitz genommen. Walter Hess erzählt von seinem jungen Ich, einem depressiven Gärtner, der in der Betrachtung einer Rose versunken ist und staunend erkennen muss, dass sie länger und schöner blühte an diesem Tag, als erhofft oder gar vermutet. Dann wird tänzerisch kommentiert, arrangiert, bis man sich unvermittelt einer Handtasche gegenübersieht und gemeinschaftlich nach dem Namen des/r Dings/Person sucht. Jean? Vielleicht. Ja. Freudige Erregung wabert wieder durch die Compagnie.
Doch dann entwickelt sich aus der Bewegung heraus die Schlüsselfrage des Abends, um den sich scheinbar oder wirklich alles zu drehen scheint. Orpheus und Eurydike. Der einstige Argonaut, der als Sänger unglaublichen Ruhm auf sich geladen hatte, bekam von den Göttern die Chance, seine Angebetete aus dem Hades, dem Totenreich ans Licht der Welt zu führen. Bedingung: Er darf sich nicht nach ihr umschauen. Er schaute sich um und vertat damit die gemeinsame Liebe. Warum? Egal, denn wichtig ist die Erkenntnis, dass durch eine falsche Handlung, eine fast beiläufige unachtsame Bewegung der Lebensfluss aus dem Bett geraten kann und auf dürrem Boden versiegt. Das ist das Problem des Mannes, Walter Hess, der die Geschichte erzählt, der im fortgeschrittenen Alter eine lohnenswerte Perspektive sucht.
Dann tritt ihm sein mittelalterliches Ich gegenüber, Stefan Merki. Sie (Walter Hess und sein Ich) trafen sich im Cafe Byzantium, in denen keine alkoholischen Getränke, dafür aber Desserts und Rauschgift gereicht wurden. Merki erzählt: Me Encanta trat auf und entkleidete sich. Es war wenig erbaulich, ihr Körper nicht mehr frisch, ihr Fleisch nicht mehr fest … Und wir sollten zu ahnen beginnen, wie sich der alte Mann fühlt. Elegisch ist die Stimmung zu minimalistischen Klaviertönen (Soundtrack Trajal Harrell), schleppend und expressiv zugleich die Bewegungen der Figuren, außer, sie tänzeln über den Catwalk (Choreografie Trajal Harrell). Dabei sind sie nicht angezogen, sondern mit Kleidungsstücken drapiert. Höchst sonderbar, teilweise oder zumeist. (Kostüme Trajal Harrell) Die Liste der Kostümdesigns ist lang, umfasst fünfzehn Marken, die an dieser Stelle nicht genannt werden. (Hier gibt’s kein product placement!)
Am Ende, der kleine Springbrunnen wird in Gang gesetzt und der „Quell des Lebens“ sprudelt wieder, starteten alle, auch Walter Hess im rosa Jöppchen, wieder furios ins Leben. Es wirkte auf das Publikum wie eine Befreiung (Woraus auch immer?) und es honorierte die Performance mit tosendem Applaus und Bravos.
Trajal Harrell © Orpheas Emirzas |
Die Inszenierung von Trajal Harrell war eine Arbeit in Personalunion, der ureigene und zutiefst subjektive Blick auf eine Realität, die sich schwer in Zusammenhang bringen ließ. Mythisches rieb sich an Realismus, der jedoch mehr erklärt als geschaut wurde. Vielleicht war der Realismus zu abstoßend, als dass man sich ihm wirklich nähern konnte, daher die ästhetische Überhöhung? Die Übermacht von Ästhetik, hier auch Moden und Marken, lässt darauf schließen. In Harrels Biografie wird erklärt, er komme „aus der (Tradition der -W.B.) queeren afro- und latein-amerikanischen Clubcultur in Harlem hervorgegangenen Voguing und des postmodernen Tanzes“.
Zudem beschäftigt er sich intensiv mit der Arbeit des japanischen Gründers des Butoh-Tanzes Tatsumi Hijikata und er wird heute als einer der wichtigsten Choreografen seiner Generation betrachtet. Im japanischen Butoh Tanz, eine künstlerische Reaktion auch auf die Atombombenabwürfe über japanische Städte, werden die Ursprünge des Daseins ergründet. Unter Einbeziehung der Erinnerung und des Unterbewussten wird über Leben und Tod philosophiert. Charakteristika sind die Entindividualisierung des Körpers, die Expressivität der Gesten und Posen, die extreme Langsamkeit der Bewegungen. Wichtig dabei ist der Verzicht auf ein logisches Handlungsgerüst sowie die Entwicklung einer Metaphorik des Unbewussten. Soviel zum ästhetischen Verständnis.
Die Liste der Arbeiten und der Aufführungsorte von Trajal Harrell ist geradezu einschüchternd. Dennoch stellt sich die Frage, was seine Arbeit uns Mitteleuropäern, uns Müchnern geben kann und hier teilen sich die Geister. Den Zuschauern älteren Jahrgangs, Bildungsbürger, aufgewachsen im Sinn der Aufklärung und der Ratio damit gewogen, bevorzugt in der Regel ein Handlungsgerüst. Bei aller Rationalität, die uns eigene ist, sind wir doch darum nicht unpoetisch. In der Inszenierung wurden die Zuschauer (im wahrsten Sinn des Wortes) zum Anfang gebrieft. Ein paar Seiten Text wurden ausgegeben, darin auch Rainer Maria Rilke. Dieser Mann war reine Poesie. Ihn zu verstehen, fällt uns leicht. „Butoh ist eine einzigartige Sprache, in der auf die Stille gehört, auf die Leere geschaut wird.“ Das ist sehr exotisch und nicht ganz so leicht verständlich.
Nun leben wir in einer Welt, die stets und ständig nach Neuem giert, um uns vor Langeweile, das Kreuz der reichen Hochzivilisation, zu schützen. Es steht zu befürchten, dass Trajal Harrell, der ganz sicher ein seriöses künstlerisches Anliegen hat, genau dieses Bedürfnis bedient. Wir Europäer sind pragmatisch, auch wenn der Pragmatismus eine amerikanische Erfindung ist und in Bezug auf Kunst wenig bis gar nichts geleistet hat. Wir sind nicht unglücklich darüber, mit einer Botschaft, mit einer Erkenntnis, mag sie auch emotionaler Natur sein, sie ist darum nicht weniger wert, aus einem Kunstvorgang herauszugehen. Die Ästhetik, so unsere Tradition, war immer das Mittel zum Zweck oder das Transportmittel der Botschaft. Überästhetisierungen führen schnell zum Überdruss. Bei Trajal Harrells Inszenierung dominierte die Ästhetik, zumal die Botschaft, dass das Leben voller gefährlicher Fallstricke sei, nicht unbedingt der Born der Weisheit ist. Allein, insbesondere das sehr junge Publikum fühlte sich ganz offensichtlich gut unterhalten. Und das hat auch einen Wert.
Wolf Banitzki
Morning in Byzantium
von Trajal Harrell
Irae Diessa, Marie Goyette, Trajal Harrell, Thomas Hauser, Walter Hess, Max Krause, Jelena Kuljić, Stefan Merki, Songhay Toldon, Ondrej Vidlar Inszenierung: Trajal Harrell |