Werkraum Schnapsbudenbestien Folge 3: Jacques nach Émile Zola


Vom Erwachen der Bestie

„Die Bestie im Menschen“ ist der Titel des Buches von Émile Zola, dem die Geschichte der dritten Episode der „Schnapsbudenbestien“ entleht wurde. Der Titel ist zugleich die umfängliche Beschreibung dessen, was Regisseur Matthias Günther verhandelt wissen wollte. Jacques, der älteste Sohn Gervaises, trifft in Paris seinen Vater Lantier, der nach dem Streik (Folge 2) in den Vorstand der Gesellschaft berufen worden war. Auch Souvarine, der ehemalige Schnapsbudenbetreiber, hat in der Gesellschaft, in der er gemeinsam mit Lantier arbeitete, Karriere gemacht. Er hat Lantiers ehemalige Mätresse Aubry geheiratet, die nach wie vor eine Affäre mit Lantier unterhält. Der eifersüchtige und durch das Verhalten seiner Gattin gedemütigte Souvarine entschließt sich, Lantier zu töten. Um nicht allein die Last der Schuld tragen zu müssen, bindet er seine Ehefrau in den Komplott ein. An dieser Stelle kommt Jacques ins Spiel. Er beobachtet den Mord. Und da Souvarine glaubt, Jacques könne den oder die Mörder identifizieren, umgarnt er den jungen Mann. Jacques und Aubry beginnen eine Affäre und beschließen, nach Amerika zu gehen. Das einzige Hindernis ist jedoch Souvarine, der zwar keine große Begeisterung mehr für seine Ehe aufbringt, dem die beiden aber durchaus berechtigt misstrauen. Es bleibt nur ein Ausweg aus dem Dilemma: Souvarine muss getötet werden. Jetzt erwacht die Bestie in Jacques. Doch die Geschichte endet anders als geplant.

Sina Barbra Gentschs Bühne bestand aus zwei durchscheinenden Wänden, die ein Schattenspiel ermöglichten. So musste kein Blut fließen und dennoch konnten die Taten sichtbar gemacht werden. Die Darsteller konnten ebenso nach den knappen Szenen wieder von der Bildfläche verschwinden. Über allem prangte ein Spruchband mit der Aufschrift „Bazaristan“, was wohl meinte, dass in der vorliegenden Welt alles verhandelbar und käuflich geworden ist. Mara Strikker hatte die Schauspieler mit stilisierten Kostümen ausgestattet, die Aubry als luxuriöses und zugleich libidinöses Wesen definierte. Anna Drexler spielte die zwischen den Männern wandelnde, genusssüchtige Frau kapriziös und mit der standesüblichen (oder auch vermeintlichen) Sensibilität der Bourgeoisie nervös überreizt. Christian Löbers Jacques, in zeitloser Bundlederjacke und grauer Hose ohne Bügelfalte gewandet, war ein dünnhäutiger, unsicherer Mann, der enorm begeisterungsfähig war, der aber auch pathologische Züge aufwies, was erklärte, dass sein Vater Lantier auch nach dessen Tötung noch immer im Kopf des Sohnes herumspukte.

Edmund Telgenkämper im Outfit des gehobenen Bügers gab einen zurückgenommenen, eiskalten und pragmatisch denkenden und handelnden Lantier, der inzwischen in seine soziale Rolle als skrupelloser, menschenverachtender Großbürger hineigewachsen war. Ihm haftete in seinem sozialdarwinistischen Denken etwas mephistophelisches an. Walter Hess in einer aufreizend weißen Felljacke, dessen Souvarine anfangs noch treibende Kraft war, ergab sich seinerseits zunehmand einem ausschweifenden Leben, das ihn finanziell ruinierte. Er nahm mehr und mehr das Los des unausweichlichen Untergangs an.

Wieder gelang es Matthias Günther einen ganzen Roman in nur 55 Minuten zu erzählen. Wieder waren die Vorgänge deutlich und verständlich. Die Charaktere, diese Episode beschränkte sich auf nur vier, waren ausgezeichnet herausgearbeitet und darstellerisch gekonnt präsentiert. An die Tatsache, dass es sich um einen mehr als 120 Jahre alten Roman handelte, erinnerte lediglich die Sprache, die Matthias Günther auch in dieser Episode wunderbar ins Heute transformiert hatte, ohne ihren ursprünglichen Reiz zu beschädigen. Bisher war diese Episode die spannendste, denn sie hatte einen unerwarteten Plot. Günther folgte in seiner Inszenierung nicht der Dramaturgie des Romans, in dem sich Jacques Lantier, er ist Lokführer, seiner dunklen, mörderischen Neigung stets und von Anfang an bewusst ist und der sich selbst isoliert, um nicht Opfer dieser Neigung zu werden. Immerhin deutete Christian Löber in seinem stark körperbetontem Spiel an, dass etwas in ihm hauste und ihn zu verbiegen drohte.

Bleibt noch Nana, die jüngste im Geschwistertrio, deren Geschichte eigentlich die bekannteste ist, und es bleibt auch nach Folge 3 die Spannung auf Folge 4.

Wolf Banitzki

 


Schnapsbudenbestien Folge 3: Jacques

nach Émile Zola

Anna Drexler, Walter Hess, Christian Löber, Edmund Telgenkämper

Regie: Matthias Günther

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.