Werkraum Schnapsbudenbestien Folge 4: Nana nach Émile Zola


 

 

Aufstieg und Fall einer Kurtisane

Rückblende. Schnapsbudenbestien Folge 4 spielt innerhalb des Zeitraums, den Folge 1 abhandelte, an deren Ende die Alkoholdemenz Coupeaus stand. Zur Erinnerung, Coupeau war der Ehemann Gervaises und der Vater Nanas. Nachdem Coupeau sich dazu entschlossen hatte, dass er auch ohne anständige Arbeit auskommen würde, betrieb er gemeinsam mit seiner Frau ein Etablissement, halb Varieté, halb Bordell. Star des Unternehmens war Nana, die schöne und begehrenswerte junge Frau, die schon früh begriffen hatte, dass ihre körperlichen Reize von großem Wert waren. Auch Maheu arbeitete, nachdem er in der Fabrik infolge des gescheiterten Streiks dem Alkohol verfallen war und seine Familie verloren hatte (Folge 2), als Türsteher im Bordell.

Nana wird von den Männern umschwärmt, die allesamt bereit sind, sich für diese Unterweltgöttin zu ruinieren. Man schenkt ihr ein Landgut und eine Villa in Paris, überschüttet sie mit Schmuck und Kleidern, allen voran der reiche Bankier Steiner, der bereits eine Liaison mit der Nachtclubsängerin Rose Mignon eingegangen ist. Aber auch Graf Muffat ist bereit, der Schönen seinen Besitz zu opfern. Selbst der kleine Prokurist Georges „Bébé“ Hugon kann nicht an sich halten und greift der Angebeteten zuliebe in die Kasse der Bank, in der er arbeitet. Sie gehen samt und sonders unter, vergehen an dem „alles zersetzenden Bazillus“ der aus der „gärenden Fäulnis der niedrigsten Klasse emporstieg“ in die Sphären der Bourgeoisie und der Aristokratie.

Nana kann dieses Begehren nicht glücklich machen, denn sie ist in den heruntergekommenen Maheu verliebt. Der behandelt sie respektlos, prügelt sie und wirft sie, als er ihrer überdrüssig ist, auf die Straße. Dort wird sie von der Prostituierten Satin aufgelesen. Beide beschließen, es den Männern heimzuzahlen. Als alle ihre Opfer gänzlich ruiniert sind, verkaufen sie den verbliebenen Besitz und verschwinden. Niemand weiß, wohin sie gegangen sind, doch es ranken sich viele Legenden um die Frauen. Als sie schließlich wieder in Paris auftauchen, ist Nana an den Blattern erkrankt und stirbt im Pariser Grand-Hotel. Coupeau reist mit seinen Varietékünstler nach Berlin, um ein großes Geschäft aufzuziehen. Zurück bleiben Gervaise und Maheu, die sich wie Schiffbrüchige zusammentun, um nicht allein auf ihr Ende zusteuern zu müssen.

Mit und in der Folge 4 ließ es Matthias Günther noch einmal richtig krachen. In bunten, aufreizenden und z.T. verblüffend fantasievollen Kostümen von Mara Strikker agierten die Darsteller schrill-komödiantisch, die Dekadenz der Belle Epoque und ihre Protagonisten persiflierend. Das hatte großen Schauwert. Sina Barbra Gentschs Bühne war ebenso spartanisch wie die der ersten drei Folgen. Ein hölzernes Gerüst trennte die Spielfläche von den Zuschauerplätzen auf der Bühne (Varieté) ab. Ein paar Palmen, die aussahen, als hätte man sie von den Philippinen eingeflogen, verdeutlichten eine Salonsituation. Oliver Mallison als Türsteher Maheu warf die angreifenden notgeilen Großbürger und Aristokraten knurrend, zähnefletschend und mit donnernder Stimme immer wieder hinter die Schranken der vermeintlichen Artigkeit zurück. Çigdem Tekes Gervaise war inzwischen von der Mutter zur Kupplerin mutiert und versuchte mit schriller Stimme und aufgerissenen Augen die Pfründe zu sichern, die sich immer wieder auftaten und denen Nana mit Gleichgültigkeit begegnete. Stefan Merki ging ganz in der Rolle des Entertainers Coupeau auf und erwies sich als sehr geschmeidig, wenn neue Arrangements mehr Profit versprachen. Mit äußerster Agilität und sehr lauthals betrieb er sein schillerndes Geschäft. Skrupel beim Verkauf seiner Tochter waren ihm gänzlich fremd. Auf die Frage des Bankiers Steiner: „Ist das ihr Theater?“, antwortete er unumwunden: „Bitte, sagen Sie: mein Bordell!“

Im Zentrum aller Begehrlichkeiten stand Nana, wie ein Sphärenwesen von Marie Jung verkörpert. Der transparente, rote Bodysuit signalisierte das „gefallene Mädchen“, das überirdische Lächeln, mit dem Marie Jung von der Schöpfung ausgestattet wurde, erhob sie indes zu einem „gefallenen Engel“. Und der war sie auch, denn ihre Interessen galten nicht dem schnöden Mammon. Ihre Sehnsucht nach Liebe führte die von allen begehrte Frau in die Hölle primitiver Gewalt. So mutierte sie schließlich zum Racheengel.

Anders als in Folge 2 schlugen sich die jungen Schauspielstudenten wacker neben ihren Profikollegen. Bastian Hagens Bankier Steiner war ein schräger Nabob, dem der aufrechte Gang abhanden kam, sobald er der Angebeteten ansichtig wurde. Colin Hausbergs Graf Muffat hingegen war von einer trotteligen Unbedarftheit, jederzeit erbötig, sich von der Schönen (bildlich gesprochen) in die Weichteile treten zu lassen. Ähnlich jenseitig agierte Hassan Akkouch als Georges „Bébé“ Hugon. Er war sich seiner finanziellen Ohnmacht stets bewusst und darum umso glücklicher über die Brosamen, die vom Lager des Lasters für ihn abfielen. Er tanzte im Hochgefühl des Glücks auch schon mal artistisch gekonnt auf einer Hand. Hassan Akkouch verkörperte zwar die wandelnde Melancholie, war darum aber nicht weniger eifrig in seiner Selbstzerstörung. Die weiblichen Darstellerinnen standen ihren männlichen Studienkollegen in nichts nach. Irina Sulaver als Straßenhure Satin genoss es sichtlich, die Männer ordinär polternd und wie ein preußischer Unteroffizier in den Schmutz zu treten. Maike Schroeter überzeugt als affektierte, auf Einhaltung der Hackordnung bedachte Rose Mignon vor allem durch ihren kraftvollen Gesang. Caroline Tykas Gräfin Sabine war eine haltlose Sinnesfrau, die sich genüsslich vom grobschlächtigen und brutalen Maheu bedienen ließ.

Matthias Günther brachte seinen Mehrteiler „Schnapsbudenbestien“ bunt schillerd und unterhaltsam zu Ende. Obgleich ein bitteres und nachdenklich stimmendes Thema, war der Aufstieg und der Untergang Nanas komödiantisch leicht gestaltet und keinesfalls ohne angemessene Tiefe. Die These, Teile von Zolas umfänglichem Werk besitzen auch heute noch ihre Tauglichkeit, ist mit dieser Arbeit, soweit man es nicht vorher schon wusste, zur Gewissheit geworden.

 

Wolf Banitzki

 


Schnapsbudenbestien Folge 4: Nana

nach Émile Zola

Hassan Akkouch, Bastian Hagen, Colin Hausberg , Marie Jung, Oliver Mallison, Stefan Merki, Maike Schroeter, Irina Sulaver, Çigdem Teke, Caroline Tyka

Regie: Matthias Günther

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.