Marstall Mensch Meier von Franz Xaver Kroetz
Siehe, der Mensch
„Mensch Meier“ meint auch: Ecce Homo - „Siehe, der Mensch“. Dieser neutestamentarische Satz stammt aus dem Johannesevangelium (19,5). Pilatus präsentiert den Hohepriestern den gegeißelten, mit der Dornenkrone und einem purpurnen Mantel ausstaffierten Jesus. Die schrien: Ans Kreuz mit ihm! Ein großes Bild, ohne Zweifel. Und Otto Meier kann standhalten davor, denn auch er ist einer, der einen Traum hat, einen Traum, der über seine kleine, unscheinbare Existenz weit hinausgeht. Doch der Traum, ein berühmter und gutbestallter Pionier des (Modell-) Flugwesens zu werden, wird ein Traum bleiben. Der Mann ist in seiner Arbeiterwelt und in seinem Weltbild von dieser Existenz gefangen. Arbeitnehmer ist gleich Verlierer. Otto Meier lebt eine (scheinbar) sichere Existenz. Auch wenn er seine Rolle als Arbeiter, als Fließbandschrauber bei BMW, zutiefst verachtet, haben er und seine Familie ein Auskommen. Es reicht immerhin für sonntägliche Ausflüge in Biergärten. Die Dinge scheinen immerhin gut gefügt zu sein, Ottos Ehefrau Martha funktioniert vorbildlich. Allein, Sohn Ludwig, innerlich wie äußerlich pubertierend, sehnt sich nach einer Arbeit. Eine Lehrstelle, in der er zu etwas „Besserem aufsteigen“ könnte als zum Arbeiter, bleibt ihm allerdings versagt. Und dann gibt es auch noch Entlassungen bei BMW. Otto hat Glück, doch es macht ihn nachdenklich. Tägliche Maloche bis zur Rente, dann, wenn es gut geht, noch zehn Jahre Warten auf den Tod? Soll das das Leben sein? Als Sohn Ludwig 50 Mark entwendet, eskaliert die Familiensituation und ehe Otto aus seiner Raserei erwacht, gibt es die Familie nicht mehr. Er ist ein geschlagener, vom Leben gegeißelter, allein und ohne Sinn. „Ecce Homo.“
Patrick Bannwarts Bühne im Marstall präsentierte bescheidenen Wohlstand. Billige Funktionalmöbel, beseelt von kitschigen Familienreliquien, begrenzten den Lebensraum sowohl in dreidimensionaler, wie auch in geistiger Hinsicht. Stets im Bild waren Boden- und Tischstaubsauger, Instrumente, die vornehmlich dazu dienten, Sohn Ludwig aus seiner schläfrigen Lethargie zu reißen. In seiner Ecke war der Protest unübersehbar. An den Wänden, wütend hingekritzelt, Sprüche wie: „Elternfrei Zone“ oder „Keine Macht für niemand“. Regisseur David Bösch koppelte sich ästhetisch, wie zuletzt in seiner Inszenierung „Prinz von Homburg“, nicht von der Realität ab. Cátia Palminhas Kostüme verwiesen zudem auch nicht zwingend auf die Entstehungszeit des 1978 erschienen Dramas; sie waren zeitlos/heutig. David Bösch verhandelte auf der Bühne des Marstalls gegenwärtige Realität.
Katharina Pichler, Marcel Heuperman, Norman Hacker © Thomas Dashuber |
Der BMW-Arbeitnehmer und Hobbymodellflieger Otto wurde von Norman Hacker gegeben. Mit dieser Rolle stellte dieser bemerkenswerte Schauspieler einmal mehr unter Beweis, dass er zu den wirklich wandlungs- und einfühlungsfähigen, vielgesichtigen Darstellern zählt, die immer wieder überraschen können. Hackers Otto war klein im Geist, aber groß und anrührend poetisch im Traum. Er war bissig wie ein Dobermann, wenn es darum ging, sein familiäres Reich und seine (etwas verquere) Persönlichkeit zu verteidigen, und er war mitleiderregend in seiner Ohnmacht, vor der er nicht fliehen konnte. Aber er existierte, besonders zuletzt in der Selbstaufgabe, nie würdelos. Katharina Pichlers Ehefrau Martha war eine starke Frau, die selbst den letzten Schritt noch ging und ihren Mann verließ, ohne sich von den ökonomischen Konsequenzen einschüchtern zu lassen. „Als wenn man ein Viech sein tät und kein Mensch.“ Doch sie ist Mensch und will es bleiben. Katharina Pichler spielte diese Stärke als eine ausschließlich innere Kraft, dezent und weitestgehend lautlos. Den pubertierenden, von Hautekzemen geplagten, zu Fettleibigkeit neigenden, weil ständig Flakes mampfenden Ludwig gab Marcel Heuperman. Der körperlich wuchtige Darsteller ließ keinen Zweifel daran, dass er einen guten Maurer abgeben könnte. Man konnte in ihm ebenso den pickelgeplagten Teen, wie den hartgesottenen Mann vom Bau erkennen.
David Böschs Inszenierung war ästhetisch unspektakulär und weitestgehend frei von ideologischer Einflussnahme. Letzteres bekundet eine besondere Qualität in Zeiten von ideologischer Hochrüstung. So wurde die Inszenierung nicht zu einem politischen, kapitalismuskritischen Beitrag zur Zeitgeschichte, sondern eine schlichte, bitter existenzialistische Erzählung von einem Menschen, der exemplarisch steht für Millionen. Es handelt sich um die Welt der Lohnarbeiter, es gab sie übrigens genau so auch im Sozialismus russischer Prägung, deren einziger Sinn es ist, zu funktionieren. Sich selbst entfremdet, kann sich der glücklich schätzen, der nicht die geistige Hoheit über sein Schicksal erlangt, denn die tiefere Einsicht daraus wäre die von der Sinnlosigkeit einer solchen Existenz. Otto Meier war das nicht vergönnt. „Da bin ich beschissen worden!“ konstatierte er. Diese Erkenntnis drückte ihn nieder und er wird kaum die Kraft finden, sich wieder zu erheben. Aber solange es noch möglich ist, ihn, Otto Meier, zu Arbeitsbeginn wieder „einzuschalten“, damit er seine Schrauben drehen kann, ist die Welt genau so, wie sie von den Einrichtern gewünscht wird.
Das Stück erzählt von modernen Zuständen in einer Risikogesellschaft und von Selbsterkenntnis. Beides vermochte die Inszenierung zu transportieren. Auch wenn die Inszenierung ästhetisch eher reizlos ist, erzählt sie doch mit großer Klarheit vom wirklichen Leben: „Siehe, der Mensch!“ Und eben das macht sie sehenswert.
Wolf Banitzki
Mensch Meier
von Franz Xaver Kroetz
Norman Hacker, Katharina Pichler, Marcel Heuperman Regie: David Bösch |