Marstall  Der Sandmann nach E.T.A. Hoffmann


 

Über die Macht des „Ungeheurlichen“

Während der Befreiungskriege vom Napoleonischen Joch, die 1815 ihr Ende fanden, gab es einen Umbruch in der deutschen Literatur. Ein Aspekt, der sich insbesondere durch das Schaffen von Tieck auftat, der an Möglichkeiten der Darstellung des Gespenstischen im Alltäglichen arbeitete, war die Etablierung des Fantastischen in der Literatur. Es gab eine rege Diskussion über sogenannte parapsychologische Phänomene. E.T.A. Hoffmann ging es dabei weniger um die Phänomene an sich, als vielmehr um die literarischen Potenzen, die sich aus der Beschäftigung damit ergaben und die den Einzug des „Grauenhaften“ in die Literatur ermöglichte. Er nannte die Texte „Fantasiestücke“. Nebenbei, William Beckford hatte die „Gothic Romantic“ in England mit seinem viel blutrünstigeren Roman „Vathek“ diese Entwicklung bereits vierzig Jahre zuvor vorweggenommen. „Elixiere des Teufels“ gilt als ein Schlüsselwerk zum Thema von E.T.A. Hoffmann, aber auch „Der Sandmann“. Diese Erzählung handelt von einem jungen Mann namens Nathanael, der in der Kindheit ein traumatisches Erlebnis, nämlich den gewaltsamen Tod des Vaters, erleidet, das bei ihm assoziativ mit der „Ammengeschichte“ vom Sandmann verwoben ist.

Wer ist nun dieser Sandmann? „Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, daß sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.“ In der Zeit, als Nathanael diese Geschichte erzählt wird, kommt ein gewisser Advokat Coppelius in Nathanaels Elternhaus, um gemeinsam mit dem Vater alchemistische Versuche durchzuführen. Dabei kommt der Vater ums Leben und Advokat Coppelius, der von Nathanael mit dem Sandmann gleichgesetzt wird, verschwindet spurlos aus der Stadt.

Von nun an kann sich der junge Mann von dieser Vorstellung nicht mehr lösen und, inzwischen zum Schriftsteller gereift, er macht diese Figur zum Zentrum seines Denkens und Schreibens. Dann treten Clara und Lothar, zwei ferne Verwandte etwa gleichen Alters, in sein Leben und in den mütterlichen Haushalt ein. Nathanael verliebt sich in die junge kluge Frau. Sie ist immerhin so gescheit, dass sie Nathanaels Obsession Coppelius betreffend mit folgenden Worten begegnet: „Es ist das Phantom unseres eigenen Ichs, dessen innige Verwandtschaft und dessen tiefe Einwirkung auf unser Gemüt uns in die Hölle wirft, oder in den Himmel verzückt.“ Das ist eine durchaus gelungene psychologische Diagnose.

Doch Nathanael kann sich aus dem „Teufelskreis“ nicht befreien, selbst als er nach G. zum Physikstudium reist. Dort glaubt er nämlich Coppelius in der Gestalt des piemontesischen Wetterglashändlers Coppola wieder zu erkennen. Von diesem Gedanken löst er sich nur, weil der von ihm hochverehrte Professor Spalanzani positive Bürgschaft über Coppola ablegt. Coppola gelingt es nach wiederholtem Anlauf, Nathanael ein Fernglas zu verkaufen. Durch dieses betrachtet der junge Physikstudent, der wegen eines Brandes seine Wohnung wechseln musste und nun gegenüber von Spalanzani wohnt, dessen Tochter Olimpia und verliebt sich in sie. Vollkommen taub für die Einwände seines Freundes und Kommilitonen Siegmund und blind für das tatsächliche Wesen der jungen Frau, entdeckt er in ihr die vollkommene Partnerin, die alles mit „Ach, ach“ kommentiert. Olimpia lauscht seinen Werken stundenlang und enttäuscht den Autor nicht. Anders als Clara, die sich nicht selten langweilte: „Nathanaels Dichtungen waren in der Tat sehr langweilig. Sein Verdruß über Claras kaltes prosaisches Gemüt stieg höher, Clara konnte ihren Unmut über Nathanaels dunkle, düstere, langweilige Mystik nicht überwinden, und so entfernten beide im Innern sich immer mehr voneinander, ohne es selbst zu bemerken.“ Und so erkaltet die Liebe zu Clara.

  Der Sandmann  
 

Anna Graenzer, Oliver Möller

© Matthias Horn

 

Was Nathanael nicht wahrhaben will: Olimpia ist ein Automat, geschaffen von Professor Spalanzani und Coppola in Koproduktion. Er hält sogar um die Hand des hölzernen Wesens an. Erst als Spalanzani und Coppola in einen Streit geraten und die Puppe zu Bruch geht, Nathanael die herausgefallenen Augen auf die Brust „springen“, ergreift ihn ein rasender Wahnsinn. Er landet zeitweise in der Irrenanstalt. Wieder zur Vernunft und heimgekommen ins Elternhaus zu Clara und Lothar, erwacht seine Liebe erneut und er lässt sich von der klugen Clara die Sache schlüssig erklären: „Ja Nathanael! du hast recht, Coppelius ist ein böses feindliches Prinzip, er kann Entsetzliches wirken, wie eine teuflische Macht, die sichtbarlich in das Leben trat, aber nur dann, wenn du ihn nicht aus Sinn und Gedanken verbannst. Solange du an ihn glaubst, ist er auch und wirkt, nur dein Glaube ist seine Macht.“

Das Prinzip Coppelius behält indes die Oberhand. Als Nathanael und Clara, deren Leben sich in jeder Hinsicht zum Guten gewendet hat, den Kirchturm der Stadt besteigen, schaut er noch einmal durch das magische Fernglas Coppolas und entdeckt Coppelius zu seinen Füßen. Erneut packt ihn der Wahnsinn und er Clara, um sie vom Turm zu werfen. Als das verhindert wird, stürzt er sich selbst hinunter.

Es ist eine hochpotente Geschichte, die sich in viele Richtungen deuten lässt, was in den vergangenen 200 Jahren auch eifrig getan wurde. Regisseur Robert Gerloff hat ebenfalls eine Interpretation gewagt und heraus kam ein fantastisches Stück Theater auf der Bühne des Marstalls. Er erzählte durchaus die ganze Geschichte Hoffmanns und lud etliche Szenen mit aktuellen Bezügen auf, was das Gesamtwerk zu einem sehr heutigen machte. Das Bühnenbild von Maximilian Lindner wurde beschienen von einem riesigen Mond, der zugleich Projektionsfläche für Videoeinspielungen war. (Video Marie-Lena Eissing) Ansonsten prangte auf ihm die hinlänglich bekannte psychedelische Spirale, nur mehr an ein Auge erinnernd. Dieses Motiv fand sich ebenfalls auf der Seitenfläche einer drehbaren Guckkastenbühne, in deren Innern sich sowohl das Arbeitszimmer des elterlichen Hauses von Nathanael, als auch das verborgene Labor befand. Eine weitere Guckkastenbühne, allerdings viel kleiner, war beispielsweise Spielort eines „literarischen Quartetts“, in dem drei Protagonisten auf höchst wissenschaftlicher Ebene und in absurder Weise das Werk „Der Sandmann“ von Hoffmann verhandelten.

Gerloffs Arbeit war gerahmt vom Auftritt des DDR-Sandmanns. Sämtliche Darsteller intonierten vielstimmig das Eingangslied und, am Ende die Abreise des Sandmanns. (Musik Cornelius Borgolte) Ansonsten waren die Szenen aufgeladen mit Film- und Literaturzitaten von „Casablanca“ über „Der andalusische Hund“ bis zu „Vertigo“, von Ernst Jünger bis Paul Celan. Als Professor Spalanzani den Universitätsball eröffnete, hielt er eine Rede über den Kampf der Individuen in einer Welt, in der nur der Starke überlebt. Dabei griff Manfred Zapatka textlich auf die üblichen Verdächtigen zurück und erntete Szenenapplaus. (Vorstellung am 7. April)

Es war erstaunlich, wie gut sich heutige Demagogie und Hetze in diese zweihundert Jahre alte Geschichte einbauen ließ. Das beweist einmal mehr, wie abgestanden und historisch überlebt die Argumente sind. Aber auch ihre Protagonisten Coppelius / Coppola erinnern an heutige Figuren auf den Schachbrettern der Politik und Propaganda. Übrigens hatte die Schaubühne ein Schachbrettmuster als Fußboden und es wurde auch als solches bespielt. Aurel Mantheis diabolisch anmutende Auftritte als Coppelius und Coppola erstaunten weniger wegen der Perfidie der Figur, als vielmehr durch die Logik seiner Pläne, seiner Argumente und seiner Voraussagen, die tatsächlich stets aufgingen. Im goldfarbenen, glänzenden Anzug war er eine Mischung aus Magier und Manager, unterkühlt und emotionslos, höchstens ein süffisantes Lächeln auf den Lippen, wenn wieder ein Coup gelungen war.

Neben Arthur Klemt, der den Lothar, Nathanaels Mutter und den Siegmund variantenreich spielte, gab Anna Graenzer eine coole Clara und eine wahrhaft hölzerne Olimpia. Ein besonderer Moment der Aufführung war ihre Gesangsdarbietung bei der ersten öffentlichen Zurschaustellung der Olimpia beim Universitätsball. Sie sang, nachdem ihr Vater/Schöpfer Spalanzani seine nationalistische und chauvinistische Rede gehalten hatte, „Die Loreley“ die ja bekanntlich aus der Feder des Juden Heinrich Heine stammt. Aber auch in diesen Kreisen ist inzwischen alles erlaubt, wenn es nur der allgemeinen Verwirrung und der emotionalen Vereinnahmung des „Stimmviehs“ dient. Die Figur des Nathanael hätte mit Oliver Möller nicht besser besetzt sein können. Seine Grazilität verhieß stets das Kindhafte, dass, durch das Traumata begründet, nicht weichen wollte. Zudem spielte Möller die Rolle einfach grandios, sei es mit leisen Tönen der Liebe, heftigen des Zorns oder schrillen des Wahnsinns. Die Darsteller waren durch Johanna Hlawica virtuos kostümiert, denn die Kostüme waren zeitlich nicht zwingend festgelegt sondern folgten flexibel mehr dem Charakter und den Inhalten der Szenen.

Was Robert Gerloff in seiner knapp zweistündigen Inszenierung auf die Bühne brachte, war sowohl in ihrem artifiziellen Anspruch als auch in den Aktualitätsbezügen bestes Theater. Diese Inszenierung gehört zu den momentan wichtigsten und aussagestärksten auf den Münchner Bühnen. Sie gefällt sich nicht in penetranten Zeigefingerhinweisen und nervenden Politdiskursen, sondern überzeugt mit der künstlerisch hochwertigen Umsetzung eines schwierigen und alten Textes und einer gewaltigen Lust daran, die immer wieder durchschimmert. Es war Theater total und ganz gewiss wirkmächtiger als die meisten Diskussionen zum Thema. Täglich neue Schreckensszenarien über den „schwarzen Mann“, die „Achsen des Bösen“, das „geheimnisvolle Unbekannte“ oder die „dunklen Mächte“, sollten als das genommen werden, was sie sind: demagogische Versuche der Verunsicherung, um den Ruf nach starken Männern oder Frauen zu rechtfertigen, die in Scharen an die Machtfront streben.

E.T.A. Hoffmann schrieb seine Geschichten über das „Ungeheuerliche“ in einer Zeit, in der sich der saturierte Bürger langweilte. Er war des täglichen Einerleis der Besitzstandwahrung oder der Vermehrung des Vermögens überdrüssig und sehnte sich nach einem Kick. Das war eine literarische Marktlücke, die E.T.A. Hoffmann geschickt zu bedienen wusste. Tatsache ist, dass er zu den besthonorierten Autoren seiner Zeit gehörte. Und das verdankte er der Beliebtheit der „fantastischen“ Geschichten. Schriftsteller und Künstler sind möglicherweise mehr Idealisten als andere Mitbürger, aber sie sind auch Menschen die „zum Golde drängen“. Und so lässt sich aus der Macht des „Ungeheuerlichen“ durchaus Kapital schlagen sowohl für die Politik, wie auch für die Dichtung.

Wolf Banitzki

 


Der Sandmann

nach E.T.A. Hoffmann

Mit: Aurel Manthei, Oliver Möller, Anna Graenzer, Manfred Zapatka, Arthur Klemt

Regie: Robert Gerloff
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