Theater im Marstall Country Music von Simon Stephens


 

 

Es ist wie es ist

Was der Blues für schwarze, ist Country Music für weiße Bevölkerungsschichten. Sie transportiert, wie alle volkstümlichen Musikstile, Lebensgefühl und Weltanschauung. Hier werden Träume artikuliert, finden Liebe, Glück, Zugehörigkeit und "heile Welt" ihren Ausdruck. Kitsch, könnte man dazu sagen, doch, wie das Wort bezeichnet, schließt sie die Lücken, die zwischen einer kalten Realität und einer bedürftigen Emotionalität entstehen. Diese Musik ist also Lebensmittel und sie ist alles, was Jamie Carris, dem Protagonisten in Simon Stephens Stück am Ende bleibt.

Jamie sitzt mit Lindsey im Auto; es ist spät nachts. Er spricht von schönen Tagen am Meer und Nächten in einer kleinen Pension ... Er bietet ihr Chips an, die er ebenso wie den Tequila an einer Tankstelle "mitgenommen" hat; den Jungen, der sich ihm in den Weg stellte, setzte er durch Messerstiche außer Gefecht. Der Wagen gehört dem Freund seiner Mutter; er hat ihn nicht nur einfach genommen. Lindsey möchte zurück ins Heim, hat Angst vor Jamies Unberechenbarkeit. Seine Träume handeln von kleinbürgerlichen Glücksvorstellungen und doch sind sie, wie es scheint, unerreichbar. Neun Jahre später sitzt Jamie im Gefängnis. Er hatte seinen Stiefbruder Matty vor dem Kinderschänder beschützt, dem er seinerzeit nicht hatte entgehen können. Von Matty erfährt er, dass Lindsey und die gemeinsamen Tochter dem Heimatort den Rücken gekehrt haben. Nachdem Jamie aus der Haft entlassen wurde, er arbeitet mittlerweile als Automechaniker, trifft er an einem Samstag seine Tochter Emma. Sie ist mittlerweile siebzehn Jahre alt, erinnert sich kaum noch an ihn. In einer Rückblende sieht man Jamie und Lindsey an dem Tag, bevor alles begann, als noch alle Möglichkeiten offen standen und alles hätte anders kommen können. Wäre da nicht ... Jamie.
 
 

 
 

Felix Klare

© Thomas Dashuber

 

 

Sozialkritisches hat auf der Insel Tradition und steht, anders als in Mitteleuropa, wo es eher ums Verdecken und Vertuschen geht, im Mittelpunkt künstlerischen Schaffens. Simon Stephens, einer der erfolgreichsten jungen englischen Dramatiker der Gegenwart, wird in eine Reihe mit den zornigen jungen Männer Englands, wie John Osborne, gestellt. Er beobachtet und entwirft in moderner knapper Sprache scharfe Bilder. Im Stück zeichnet er in vier Szenen den Werdegang eines Mannes vom missbrauchten Jungen zum unberechenbaren und gescheiterten. Gewalt ist das einzige Mittel, das er kennt. Gewalt ist allgegenwärtig und von den Medien bis zur Straße begegnet man ihr laufend. Längst hat sie sich als Regulativ in vielen Bereichen legitimiert.

Die Gewalt geht in der westlichen Zivilisation mit Leere einher. In der menschlichen Vereinzelung fehlen emotionaler Hintergrund und Bindungen. Ohne diese tritt nur die Befindlichkeit der Figuren an den Tag, in den Vordergrund. Diese Befindlichkeit hat der Autor in seine Figuren eingefangen, klischeehaft wie in einem Psychogramm, bestimmt die soziale Determinierung den Lebensverlauf, schlittert der Protagonist in sein sogenanntes Schicksal. Gewalt - da ist noch ein Rest "Mensch" der sich auflehnt.

In dem realistisch kargen Bühnenbild, gestaltet von Gisela Goerttler, inszenierte Alexander Nerlich intensives psychologisches Spiel. Die Geschichte trat hinter die entwickelten Figuren zurück. Felix Klares Jamie standen die inneren Vorgänge nicht nur ins Gesicht geschrieben, sondern drückten sich durch die ganze Erscheinung aus. Er wandelte sich vom jungen ungestümen Träumer zum verlassenen ausgeschlossenen Typ. Er wirkte in jedem Moment glaubhaft und brillant. Felix Rech gab überzeugend Matty; unsicher und verletzlich zupfte er an seiner Hose, suchte Halt beim älteren Bruder. Lindsey, ein junges Mädchen mit dem Wunsch nach Liebe und einem Zuhause, wurde dargestellt von Franziska Rieck. Lena Dörrie, als Tochter Emma, schwankte gespannt im Zwiespalt zwischen Neugier und Furcht. Empfindsam vermittelte sie die emotionalen Probleme eines Teenagers.

Psychologie begegnet uns in der modernen Welt bei fast jedem Schritt. An Hand dieser wird der Mensch analysiert und in kausale Zusammenhänge gesetzt. Umfassende berechenbare Mechanisierung ist eine Prämisse der Zeit. Doch es bleibt ein unzulänglicher Versuch, Funktionalität im emotionalen Bereich herzustellen und durch Gewalt vermeint der Mensch dem Zufall noch ein Schlupfloch ins Leben öffnen zu können. Dabei ist es nur der Wunsch nach ein wenig angenehmem Leben, nach einem kleinen Ausbruch aus dem längst akzeptierten und verinnerlichten Alltag, "Fahren wir nach Margate ...." .

Mit Alexander Nerlichs Inszenierung von Simon Stephens "Country Musix" fand ein Lehrstück für empfehlenswertes zeitgenössisch-psychologisches Theater den Weg auf die Bühne.

 

C.M.Meier

 

 


Country Music

von Simon Stephens

Felix Klare, Franziska Rieck, Felix Rech, Lena Dörrie

Regie: Alexander Nerlich