Theater im Marstall Böse Märchen von Brüder Grimm, Andersen, Afanasjew, Perrault


 

 

Vorsicht Märchen!

Märchen sind mehr als nur Erbauungs- oder Einschlafgeschichten. Sie sind unser mythologisches Gedächtnis. In ihnen sind die Codes unserer Wesenhaftigkeiten gespeichert. Wenn wir vor den "Bösen Märchen" zurück schrecken, dann schrecken wir gleichsam vor uns selbst zurück, denn wir sind in diesen Geschichten eingewoben, grob zwar, aber doch deutlich sichtbar.

Die Idee, mit den "Bösen Märchen" - im Gegensatz zu den "Guten Märchen", denen es aber an Authentizität gebricht - einen Theaterabend zu gestalten, erwies sich in jeder Hinsicht als sinnvoll. In einer Zeit der Haltungs- und Anschauungslosigkeit wird der Betrachter ohne jegliche ideologische Repression auf sich und seine Vorfahren zurück geworfen. Da es Märchen sind, kann der Betrachter die Distanz wahren. Vielleicht ist es gerade diese Perspektive, die ihm den Zugang zum eigenen Unterbewusstsein, denn hier schlummern die Codes, ermöglicht. Die kathartische Wirkung, wir wenden sie mittels Märchen allzu gern bei unseren Kindern an, ist unbestritten. Hans-Joachim Ruckhäberle brachte es in seinem Text im Programmheft auf den Punkt: "Keiner verändert die Welt im Märchen, manche aber ihre Stellung in dieser Welt."
 
 

 
 

Lena Dörrie, Richard Beek

© Thomas Dashuber

 

 

Die Auswahl der "Bösen Märchen" geschah wohl kaum von ungefähr. Vermutlich sind diese noch ungefiltert, noch nicht neu gedeutet oder temporären Moden angepasst. Irving Fetscher beschäftigte sich eingehend mit Märchen und der Brechung der Geschichten im Zeitgeist. Er fand z.B. eine Quelle für das altbekannte Märchen von der Gold- und der Pechmarie. Den historischen Hintergrund dieser Geschichte bildete das wüste Treiben eines Burgvogtes, der sich zu seinen Saufgelagen Dorfmädchen auf die Burg bestellte. Waren sie ihm und seinen Spießgesellen zu Diensten, wurden sie mit Preziosen beschenkt, waren Goldmarien. Eine jedoch verweigerte sich und wurde daraufhin geteert und gefedert. Die Geschichte ist verbrieft und es entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie, wie sie von den Grimmbrüdern umgedeutet wurde.

Marcel Keller, der für Regie und Bühnenbild verantwortlich zeichnete, erzählte alle Märchen nebeneinander. Auf der Bühne stand ein "märchenhafter" Würfel, der alle Spielorte auf und in sich vereinigte. Naturgemäß wird wenig gespielt und viel erzählt. Wer da nun glaubt, da man die Geschichten ja hinlänglich kennt, es sei ein spannungsloser Vortrag, der irrt gewaltig. Wieder einmal wird deutlich, dass sich kein gesunder Mensch der Faszination dieser Uraltgeschichten entziehen kann. Und wieder einmal wird unübersehbar, dass wir in unserer Hightechwelt unsere Fantasie noch nicht eingebüßt haben. Aller Rationalismus, auf den wir so stolz sind, fiel ganz plötzlich von uns ab, wenn Richard Beek von einem Wissenschaftler erzählte, der von seinem eignen Schatten eingeholt und vernichtet wird. Wir taumelten in unsere Kindertage zurück, als Heide von Strombeck uns den "Tod des Hühnchens" nahe, und zwar ganz nahe brachte. Aber wir waren ganz heutig, als Lena Dörrie und Katharina Gebauer katzenhaft Maximilian Löwenstein bedrängten, der ausgezogen war, um das Gruseln zu lernen. Die Botschaften konnten deutlicher kaum sein. Dramaturgisch geschickt begann der Abend mit Andersens "Schatten" und endete auch mit ihm. Als Maximilian Löwenstein und Matthias Eberth Hand an Richard Beek anlegten, um ihn auf Befehl des Schattens und der Königin zu Tode zu befördern, wussten wir, dass auch in der heutigen Welt nicht selten der Schein das Sein regiert.

Dieser Abend hielt mehr als eine Wahrheit bereit. Dramaturg Ruckhäberle umschrieb das Anliegen wie folgt: "Das Märchen kennt keine Liebe, nur Hass und Missgunst; es kennt keine individuelle Beziehung der Menschen untereinander, nur Abhängigkeiten, Macht und sozialen Aufstieg. Auf vertrackte Weise verbindet sich damit die pure archaische Ordnung des Märchens mit unserer pur ökonomisch organisierten Welt."

Und noch einer Wahrheit ist man nach diesem Abend gewiss: Märchen kommen aus den Mythen und wurden nicht für Kinder überliefert. Die Erwachsenen sollten sie lesen, denn die Kinder sind vorerst noch klüger als sie.

 
Wolf Banitzki



 

 


Böse Märchen

von Brüder Grimm, Andersen, Afanasjew, Perrault

Lena Dörrie, Katharina Gebauer, Heide von Strombeck, Richard Beek, Matthias Eberth, Maximilian Löwenstein

Regie/Bühne: Marcel Keller