Marstall Der Mann der die Welt aß von Nis-Momme Stockmann
“Ich bin frei!“, schreit der Sohn in die Welt hinaus und die Welt denkt: „Schön für ihn, aber wovon ist er frei?“ Zuerst einmal ist er frei von Arbeit, denn obgleich er ein für die Firma unverzichtbarer Mitarbeiter war, hat man ihn gefeuert. Warum? Unbotmäßigkeiten, aber genaueres weiß man nicht. Und dann ist er frei von Frau und Kindern, die sich aus dem Staub gemacht haben und jetzt mit Ulf leben, dem Freund und ehemaligem Arbeitskollegen. Auch ist er frei von Geld, dem gültigen Zahlungsmittel, ohne das er eigentlich gar nicht existent ist. Eine persona non grata, so ganz ohne Konto und Guthaben, aber doch immerhin frei. Oder? Nun, da ist der Vater, eigentlich ein recht umgänglicher und auf den ersten Blick liebenswerter Mensch, wenn er sich in seiner fortschreitenden Demenz nicht die Hände verbrennen, die Zunge abbeißen und sich nackt vor seinem Sohn im Schrank verstecken würde. In lichten Momenten ist der Vater bereit, Abbitte zu leisten, denn er liebt seinen Sohn und glaubt fest an ihn, besonders jetzt, wo der sich selbstständig gemacht hat. Doch die Selbständigkeit ist ein Chimäre, denn er hat weder Geld, noch eine Möglichkeit, an solches heranzukommen, denn niemand will mehr für ihn, den Freien, den Aussteiger bürgen. Die Freiheit des Sohnes erscheint allen als ein großes Chaos.
Über diesen Eindruck gelangten allerdings auch einige Zuschauer im Marstall nicht wirklich hinaus, denn eigentlich wurde ihnen vorenthalten, warum der Drang nach Freiheit so groß war. Freiheit ist ein grandiose Sache, und hat man sie erst einmal, fängt man was mit ihr an. In Stockmanns Drama entsprach der Begriff Freiheit jedoch eher dem Entbundensein von Verantwortung. Mit keiner Silbe erfuhr der Zuschauer etwas von den Träumen des Protagonisten, obgleich er oft genug von seiner Unternehmung spricht, in die er verbal aufbricht und in die er nicht aufbrechen kann, weil niemand bereit ist, Geld dafür zu geben. Aber wenn man erst einmal so frei ist wie der Sohn, dann „scheißt“ man einfach auf alles, was sich nicht fügt, was sich nicht fügen will. Am Ende fährt man noch einmal zum See, um mit dem dementen, aber glücklichen Vater eine 200 € teure Flasche Cognac zu trinken und zu denken: „Scheiß drauf!“
Nis-Momme Stockmann, Jahrgang 1981, schreibt in diesem Text von seiner Generation, die über Dreißigjährigen, die von einem Rest Sehnsucht geplagt ist, wie sie der bürgerlichen „scheiß Verlässlichkeit“ entkommen kann. Diese Generation ist allerdings nicht mehr mit einem hinreichenden weltanschaulichen Instrumentarium ausgestattet, um sich gegen die Totenhausbürgerlichkeit zu wehren. Was das Programmheft als ein „mit knappen Strichen ein Bild der Generation 30+“ gezeichneten Entwurf rühmt, erscheint nicht selten als ohnmächtiges Stammeln. Da bedarf es schon der Poetisierung durch den willigen Betrachter, um einen ernstzunehmenden künstlerischen Anspruch im Text zu entdecken. Gelingt das nicht, sieht man sich einer lächerlich anmutenden Befindlichkeitsarie ausgesetzt, in dem sehr viel, zu viel „drauf geschissen“ wird. Es werden viele Fragen gestellt: „Was schuldet man sich selbst, was seinen Nächsten? Wie viel Freiheit kann, muss, darf man sich leisten? Was heißt Verantwortung? Wie lebt man und wie altert man in Würde?“ (Website Residenz Theater) Doch die Protagonisten „verschlucken sich meistens an den Worten, beißen Löcher in die Luft“. Antworten sind es jedenfalls nicht. Am Ende bleibt dem Zuschauer als Quintessenz ein wohliges Mitleiden mit der gebeutelten Generation, die sich durch ein diffuses Jammern definiert.
Frederic Linkemann, Wolfgang Menardi, Arnulf Schumacher, Franziska Rieck, Martin Laue © Thomas Dashuber |
Wenn der Theaterabend, der wenig Erhellendes birgt, als künstlerischer Gestaltungsakt begriffen wird, dann durch die ambitionierte Inszenierung von Manfred Riedel und dem Spiel der Schauspieler. Bettina Kraus hatte eine Bühne geschaffen, die lediglich aus zwei schwarzen Wänden bestand und die durch das Verschieben die Szenenwechsel realisierten. Die Lösung war ebenso simpel wie verblüffend gut.
In diesem Drama wurde auch ein großes antikes Thema angesprochen, die schmerzvolle und gelegentlich auch tödliche Überwindung des Vaters durch den Sohn. Dieser Anspruch wird deutlich, wenn sich der Sohn mit aller gebotenen Unterwürfigkeit am Ende um den Arbeitsplatz bemüht, den er durch eigenes Verschulden verloren hat. Sein Arbeitgeber hatte dasselbe Antlitz wie der leibliche Vater. So wurde die Vaterschaft auf einen größeren Bereich des Lebens ausgedehnt, als nur auf die Familie. Über den Sinn der Metaphorik kann man spekulieren. Doch eines ist unbestritten, die mentale und emotionale Verfassung der Generation 30+ bestürzt und erschreckt, wenn die Darstellung durch Nis-Momme Stockmann repräsentativ sein sollte!
Der Mann der die Welt aß
von Nis-Momme Stockmann
Franziska Rieck, Frederic Linkemann, Wolfgang Menardi, Arnulf Schumacher und Martin Laue Regie: Manfred Riedel |