Metropoltheater  Betrunkene von Iwan Wyrypajew


 

Alkohol und sein Anteil an der Wahrheitsfindung

Ganz im Sinne Herbert Achternbuschs: „Jeder Mensch hat ein Recht auf seinen Rausch!“, driften 14 Menschen durch die alkoholdampfige Nacht einer Großstadt. Nein, es ist kein Theaterstück gegen Alkohol oder gar gegen Alkoholismus. Es ist ein Stück über die Vielfalt des Lebens, die es allemal wert ist, genossen zu werden. Die Anlässe sind sehr unterschiedlich: eine Hochzeit, die Premiere eines Filmfestivals, eine Junggesellenrunde mit Prostituierter in vegetarischem Restaurant oder ein simples Abendessen zweier befreundeter Paare. Iwan Wyrypajews Auftragsstück (für das Schauspielhaus Düsseldorf, UA 2014) erinnert formal ein wenig an Arthur Schnitzlers „Der Reigen“. Die Szenen sind kurz, komisch und tiefgründig zugleich. Einzelne Figuren tragen den Staffelstab der nächtlichen Handlungen durch die Szenen. Die Besonderheit dabei ist der Zustand der Trunkenheit. Wie sagt doch der Volksmund: Kinder und Betrunkene sagen immer die Wahrheit.

Auch die betrunkenen Protagonisten auf der Bühne des Metropoltheaters gingen keine taktischen Umwege, sondern steuerten mental, nicht körperlich, da gab es erheblich Umwege, gradlinig auf das zu, was sie auf der Zunge trugen. Das war beispielsweise die Einsicht in die eigene Schlechtigkeit, weil man die Frau des Freundes flachgelegt hat, oder die Eifersucht der Freundin der Braut, die ohnmächtig zuschauen musste, wie von einer anderen der Mann geheiratet wurde, mit dem sie selbst zuvor drei Jahre lang liiert war und den sie noch immer liebte. Der Direktor des Filmfestivals war eingangs, außer vom Alkohol, von einigen Sätzen aus einem iranischen Film geradezu berauscht. Am Ende teilte er diese Begeisterung mit der Prostituierten und erklärte ihr das Prinzip des Loslassens. Für ihn hatte dieses Prinzip äußerste Priorität, denn der Krebs hatte bereits angefangen, ihn aufzufressen. Als beide miteinander zur Pieta verschmolzen, setzte die Nüchternheit wieder ein und alles Göttliche, Heroische und Wunderbare wurde vom Grauen des Morgens getilgt. Das Dasein erlangte wieder die ihm eigene Banalität.

Regisseurin Ulrike Arnold bediente sich bei ihrer Inszenierung ausschließlich großer, dicker Matratzen (Bühne Katharina Dobner, die auch für die Kostüme verantwortlich zeichnete) und tat gut daran, denn 14 Rollen betrunkener Menschen sind schon gesundheitstechnisch eine Herausforderung, zumal Frau Arnold auf Slapstick nicht verzichtete. Warum auch, Unterhaltung ist nicht zu verschmähen. Slapstick ist im Grunde Ausdruck der fatalen Tücken des physischen Daseins. Und darum ging es auch im Stück, beispielsweise wenn der Versuch scheiterte, übers Wasser zu gehen. Dabei ist doch jeder und alles Gott. Man kann in bestimmten Situationen sogar das Flüstern Gottes im eigenen Herzen hören. Darauf konnte man sich nach heftigem Disput durchaus anfreunden, nicht aber mit den Unzulänglichkeiten des göttlichen Daseins. Also doch wieder der Gott außerhalb des Menschen, und da er nicht gerade sorgsam mit seiner Schöpfung umgeht, wird er auch schon mal zum Mafiaboss ernannt.

Dinge und Vorgänge, die in der nüchternen Realität absurd anmuten, werden im Zustand der Trunkenheit als völlig logisch empfunden. Trunkenheit setzt das Raum-Zeit-Kontinuum außer Kraft (Manche nennen es auch Filmriss!), was in der Perspektivenverschiebung ungeahnte Erkenntnisse aufkeimen lässt. Nicht immer, aber durchaus in ernstzunehmendem Maße dient Alkohol der Wahrheitsfindung. Also Schluss mit der undifferenzierten Kritik daran, erst recht, wenn es um ein Schlüsselthema der menschlichen Existenz geht, der Liebe – und darum geht es fast immer. Iwan Wyrypajew hat seine Weisheiten in einfache, robuste Behältnisse gegossen. Zum Beispiel: “Wenn Du liebst, dann lebst Du, wenn Du nicht liebst, bist Du ein verfickter Batzen Bauschaum.” Das ist leicht verständlich, sogar für Intellektuelle.

Wenn man einmal von den atemberaubenden Temperaturen im Metropoltheater am Premierenabend absah, war es ein unterhaltsamer und leichtfüßiger, für die Darsteller allerdings ein schweißtreibender Abend, der circa 100 Minuten dauerte und mit viel Applaus bedacht wurde. Olaf Becker, Tjark Bernau, Vanessa Eckart, Anastasia Papadopoulou, Eckhard Preuss, Thomas Schrimm und Eli Wasserscheid lieferten wieder einmal bestes  Ensemblespiel ab, wobei die glorreich besoffenen Sieben vierzehn Charaktere verkörperten. Die wunderbaren Szenenwechsel hatten indes in ihrer Choreografie auch etwas nonverbal Kabarettistisches, das vielleicht auch an einen Boxkampf erinnerte. Die Zahl der Runden wurde jeweils auf die Matratzen gebeamt, zusammen mit dem Ort der Handlung.  

Schaut man sich die Arbeiten von Ulrike Arnold der letzten Jahre an, fällt auf, dass sie eine Affinität zu skurrilen, die Absurditäten menschlichen Daseins und Handelns thematisierenden, hochartifiziellen Stücken hat. So sind die Bewohner des Ortes Llareggub in Dylan Thomas` „Unter dem Milchwald“ (Premiere 2014) wahrlich alles andere als normal. Wenn sich zu „Der wunderbare Massenselbstmord“ (Arto Paasilinna, Premiere 201) eine landesweite Kommunität zusammenfindet, um sich mit einem Reisebus vom Nordkap zu stürzen, kann das ebenso wenig als alltäglich genommen werden. Und wer einen Vortrag „Über die Kunst seinen Chef anzusprechen und ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten“ (Georges Perec, Premiere 2014) besucht, ist vermutlich auch nicht gerade unauffällig. Diese Farben, in denen auch „Betrunkene“ von Iwan Wyrypajew gemalt worden ist, möchte man am Metropoltheater nicht mehr missen. Genau diese Farben sind es, die zum Erfolg des Metropoltheaters ganz wesentlich beitragen.

 

Wolf Banitzki

 


Betrunkene

von Iwan Wyrypajew
Deutsch von Stefan Schmidtke

Olaf Becker, Tjark Bernau, Vanessa Eckart, Anastasia Papadopoulou, Eckhard Preuss, Thomas Schrimm, Eli Wasserscheid

Regie: Ulrike Arnold