Metropoltheater Atmen von Duncan Macmillan


 

Im Labyrinth der Befindlichkeiten

Die Frage, ob es angesichts des Weltzustandes sinnvoll sei, Kinder in dieselbe zu setzen, hat sich bislang jede Generation gestellt. Und in jeder Generation gab es eine große Menge Menschen, die diese Frage mit dem Ausdruck des blanken Entsetzens über so viel Verantwortungslosigkeit in den Augen verneint haben. Bei meiner Geburt (1955) war die Welt mit 2,758 Milliarden Menschen bevölkert, heute sind es 7,597 Milliarden. Für das Jahr 2050 prognostiziert das Department of Economic and Social Affairs der Vereinten Nationen 9,77 Milliarden Menschen, was angesichts der explosionsartigen Population der letzten 60 Jahre doch sehr optimistisch erscheint.

Es kann natürlich auch sein, dass die Statistik die kommenden Klimakatastrophen bereits berücksichtigt. Im Jahr 2100 wird wegen der Erderwärmung ein Drittel der Landflächen wegen der Hitze unbewohnbar sein. Riesige Landmassen werden im Meer versinken und das nicht nur im TV, nein, auch in Deutschland, Dänemark und in den Niederlanden. 12 Millionen Menschen werden in den genannten Ländern ihren Lebensraum verlieren. Man sollte, angesichts derartiger Szenarien meinen, die Überpopulation stelle ein Problem dar. Nicht für die Politik, die Herdprämien und Eigenheimzulagen auslobt, um die Vermehrung der Spezies weiter anzukurbeln. Warum? Weil die Wirtschaft Arbeitskräfte braucht, um das ökonomische Wachstum, Grundbedingung für den Fortbestand des Kapitalismus, voranzutreiben. Übrigens, es war der hemmungslos wuchernde Kapitalismus, der diese Probleme verursacht hat und auch zukünftig weiter verursachen wird.

Es kann nur löblich sein, sich dieses Themas auf der Theaterbühne anzunehmen, um zu neuen Einsichten zu gelangen. Das beabsichtigte Regisseur Domagoj Maslov, indem er das weitgepriesene Stück „Atmen“ von Duncan Macmillan auf eine kleine grüne Bühne im Restaurant des Metropoltheaters brachte. Das Besondere an der Bühne, ebenfalls von Domagoj Maslov entworfen, waren zwei Schwingböden, auf denen die Darsteller unabhängig voneinander wie auf einem elastischen Sprungbrett wippen konnten. Da beide Darsteller die 110 Minuten durchgehend nahezu unbeweglich auf der Stelle standen, also über die Mimik und einer sehr begrenzten Gestik hinaus keine körperliche Expression entwickeln konnten, wurden die aus der Handlung provozierten Erregungszustände durch mehr oder weniger intensives Schwingen sichtbar gemacht.

Erzählt wurde die Lebens- und Liebessgeschichte eines jungen Paares. Der Zuschauer erhielt Aufschluss über ihre Zweifel am Sinn des Kinderkriegens, über ihre Beziehungsprobleme, über Fehlgeburt, Trennung, Versöhnung, Betrug, Krankheit, Tod eines Partners, Heimaufenthalt bis hin zum Tod. Gespielt wurde eine Vielzahl von Orten zu einer ebensolchen Vielzahl von Zeiten. Dabei musste man Regisseur Domagoj Maslov unbedingt zugestehen, dass es ihm stets gelang, Orientierungslosigkeit in der Geschichte zu vermeiden. Das machte den Abend ebenso reizvoll wie das Spiel, oder besser die sprachliche und mimische Gestaltung des Textes von Agnes Decker und Benedikt Zimmermann. Beide entwickelten ein Höchstmaß an Intensität. Sie variierten treffsicher in Lautstärke und Tonart. Beiden war ein hohes Maß an Gestaltungsfähigkeit anzumerken. Selbst Tränen konnten bei beiden Darstellern abgerufen werden, was zwar sehr eindrucksvoll, jedoch nicht unbedingt künstlerisches Vermögen ist, sondern Körperbeherrschung. Die Aufgabe von Kunst besteht ja nicht vornehmlich darin, die gewünschten Emotionen vorzuführen, sondern sie über die künstlerische Gestaltung im Betrachter auszulösen.

Ohne Frage handelt es sich bei dem dramatischen Entwurf von Duncan Macmillan um einen besonderen Text, der seinesgleichen sucht. Allerdings ist die Gestaltung mehr Ausdruck von Sprachlosigkeit und weniger von Ausformulierung von Ideen. So wurde über weite Strecken gestammelt, gestottert, gehaspelt. Ganze Sätze, also syntaktisch intakte Einheiten, waren eher die Ausnahme. Die häufig eingestreuten Lautmalereien als Ausdruck von Verunsicherung, von Ratlosigkeit, von Unterwürfigkeit oder Entschuldigungen, bedienten das Sprachmuster von Serienhelden US-amerikanischer Couleur und erschöpfte sich alsbald. Was allerdings weitaus lähmender daherkam, war der Mangel an Erkenntnissen oder zumindest kathartischen Ansätzen, die den Zuschauer emotional und rational in eine sinnvolle Richtung gebracht hätten. Es war beinahe zwei Stunden Befindlichkeitstheater, das außer zum Tod der Protagonisten zu keinem wirklich fassbaren Ziel gelangte.

Bestenfalls konnte die emotionale Aussage als rezeptiver Ansatz verstanden werden, die da lautete: Lass uns nicht darüber nachdenken; lass es uns einfach machen. Nun könnte man sagen, so ist das Leben. Doch das Leben ist das, was außerhalb des Theaters stattfindet. An die Bühne darf der Anspruch schon höher sein. Gleichsam erschreckend war das Geständnis des Mannes, dass er irgendwann aufgehört hatte, sich mit Problemen auseinander zu setzen, aufklärerische Bücher zu den Themen zu lesen, darüber nachzudenken, ob etwas politisch oder ökologisch korrekt sei. Von da an lief es. Klar. So ist das Leben. Das ist der Ansatz, der die Ebene zu einer schiefen Ebene gemacht hat, auf der wir in die vermutlich unvermeidliche Katastrophe schlittern.

Theater sollte immer auch ein Spiegel des Lebens sein, allerdings ein geschliffener, der prismatisch die Farben jeder Facette des Lebens überdeutlich macht. Wenn jedoch, wie im Stück von Duncan Macmillan und in der kongenialen Inszenierung am Metropoltheater, die Befindlichkeiten der Generation 30 unkritisch und nicht einmal ansatzweise analytisch ausgebreitet werden, diese auf eine weitestgehende Orientierungs- und Haltungslosigkeit schließen lassen, sollten bei den Eltern dieser Generation die Alarmglocken schrillen. Diese Generation 30 hat sich ganz augenscheinlich im Dschungel der zahllosen und untauglichen Ideologien, im Labyrinth der schwer fassbaren Befindlichkeiten selbst verloren. Das wäre sehr traurig. Erst recht, wenn man sich in diesen Befindlichkeiten einzurichten versucht.

Die Prognosen, die eingangs zitiert wurden, sind ebenso seriös wie erschreckend. Baldiges Handeln wäre also wünschenswert, und zwar aus der Vernunft, nicht aus vagen, unentschiedenen Gefühlen heraus. Es sei denn, es ist einem egal oder man glaubt nicht mehr daran, das Ruder noch herumreißen zu können. Dann kann man getrost auf den Anspruch an das Theater verzichten und sich nur unterhalten lassen.

Wolf Banitzki

 


Atmen

von Duncan Macmillan
Deutsch von Corinna Brocher

Agnes Decker und Benedikt Zimmermann

Regie und Bühne: Domagoj Maslov