Metropoltheater  Schwester von  von Lot Vekemans


 

Die Last des Namens

Am Dienstag, den 19. November 2019, während eines Vortrags, wurde der Mediziner Fritz von Weizsäcker erstochen. Etwa 24 Stunden später wurde die Öffentlichkeit über die Motive des Mörders informiert. Der Mann hatte eine wahnhafte Abneigung gegen die Familie von Weizsäcker, insbesondere gegen die Person Richard von Weizsäcker, der nach Aussagen des Täters in seiner Funktion als Vorstand eines Chemiekonzerns mitschuldig an der Lieferung von Giftstoffen gewesen sein soll, die angeblich im Vietnamkrieg zur Anwendung kamen. Warum musste nun Fritz von Weizsäcker sterben? Er war der Sohn von Richard, sogar der Lieblingssohn.

Soviel zum Thema Schwester/Tochter/Sohn von … Die Last eines Namens (oder einer Abstammung) ist nicht selten vollkommen absurd, denn niemand kann einen Menschen für die Taten oder die vermeintlichen Taten der Vorfahren in Haftung nehmen. Und doch geschieht es, wie am Dienstag gesehen. Am 20. November hatte nun „Schwester von“ von Lot Vekemans am Metropoltheater Premiere. Das Ein-Personen-Stück behandelt genau dieses Thema. Eine junge Frau hält Rückschau. Es ist nicht irgendeine Frau, es ist Ismene, die mythische Schwester der Antigone, des Polyneikes und des Eteokles, und Tochter/Halbschwester von Odipus. Die Rede ist von nichts geringerem als dem Lapdakidenfluch, der vielleicht ungeheuerlichste Geschichte, die je erzählt wurde.

Sie begann damit, dass Laios, Sohn des Labdakos, den Sohn seines Freundes Pelops entführte, um seine sexuelle Lust an ihm zu stillen. Nach dem Missbrauch kam der Mord, denn Laios eigener Sohn Odipus tötete ihn, worauf der Inzest folgte. Ödipus heiratete sein Mutter Iokaste und zeugte mit ihr Antigone, Ismene, Polyneikes und Eteokles. Als die Sache ruchbar wurde, stach sich Ödipus die Augen aus und ging mit Antigone in die Verbannung. Fortan sollten sich die Zwillingsbrüder Polyneikes und Eteokles den thebanischen Thron in jährlichem Wechsel teilen. Doch irgendwann räumte Eteokles den Stuhl nicht mehr und es kam zum Krieg, in dem sich die Brüder gegenseitig töteten. Onkel Kreon, Bruder von Iokaste, die sich inzwischen erhängt hatte, übernahm nun die Macht und verfügte, dass der Verräter Polyneikes als Warnung für die Menschen und Futter für die wilden Tiere unbestattet bleiben sollte. Doch Antigone verstößt gegen das Gesetz und wird lebendigen Leibes eingemauert. Sie wartet das qualvolle Ende nicht ab und erhängt sich ebenfalls. Als ihr Verlobter Haimon, kein geringerer als Kreons eigner Sohn, davon erfuhr und das Gefängnis aufbrechen ließ, wo er die tote Geliebte fand, stürzte er sich in sein Schwert. Übrig blieben nach diesem Gemetzel einzig Kreon und Ismene.

  Schwester von  
 

Sophie Rogall

© Jean-Marc Turmes

 

Das lasse man sich einmal auf der Zunge zergehen und versuche sich in Ismene hinein zu versetzen. Und genau das tat Lot Vekemans. Ismene, hochdramatisch und mit äußerster Intensität von Sophie Rogall gespielt, reflektierte nun die Rolle der „kleinen Schwester“ in diesem gewaltigen Epos. Zu welchem Schluss konnte sie schließlich kommen? Doch nur zu dem, dass irgendwie alles an ihr vorbei gegangen ist und sie letztlich niemand der Beachtung für wert befunden hatte. Es ist, als hätten die Götter aus Versehen eine Figur zu viel in das Drama hineingeschrieben und sie dann völlig aus den Augen verloren.

Das hatte dennoch Konsequenzen für die übrig gebliebene Schwester, denn alles was geschehen war, wurde auch mit ihr in Verbindung gebracht und da nichts Gutes dabei war, ging man automatisch auf Abstand. Kein Mann interessierte sich für sie und im Lexikon überlebte sie in kaum mehr als zwei Zeilen: Tochter des Ödipus, Schwester der Antigone. Seit mehr als dreitausend Jahren beklagt sie nun ihr Leid, das darin besteht, dass sie selbst nie zu einer handelnden Person wurde, dass sie nicht bereit war, den Märtyrertod zu sterben. Ja, sie leidet selbst darunter, dass sie mit Kreon ihren Frieden gemacht hat, der ihr zuletzt auch noch die Schwester nahm. Ismene hinterfragte sich und ihre Entscheidungen und kann dabei kaum mehr als eine natürliche und gesunde Feigheit und einen überlebenswichtigen Opportunismus konstatieren. Warum also das Heulen und Zähneklappern? Immerhin hat sie den ganzen Schlamassel überlebt! Zugegeben, ein dreitausendjähriges Schattendasein ist kein Zuckerschlecken, selbst wenn man das eine oder andere Hobby hat. Aber dreitausend Jahre Tiermotive auf Kissen oder Laken sticken ist auch nicht abendfüllend.

Sophie Rogall, im attraktiven kleinen Schwarzen (Kostüm Cornelia Petz), das man vermutlich im Schattenreich trägt, erzählte die ganze Geschichte in einer Stunde und kommentierte sie auch noch. Dabei war sie ganz Frau. Wenn sie die Schar der Figuren auf einen Nennen brachte, dann lautete der: allesamt Irre! Aber ist man in einer Gesellschaft der Irren als (scheinbar) einzige Vernünftige auch automatisch die Königin? Nein, man ist der Loser und die Fremde, wobei sie aber dennoch mit demselben Makel behaftet ist, wie alle anderen auch. So ist Ismene voller Wut und Verzweiflung, voller innerer Zerrissenheit und voller Sehnsüchte, voller Empathie aber auch voller Sarkasmus. Und diesem Wesen zuzuschauen, bereitete neben gehörigem Entsetzen auch großes Vergnügen. Sophie Rogall brachte jedes einzelne Wort überaus glaubhaft über die Rampe und ihre physische Spannung war so extrem, dass sich ihr Spiel auf einem Areal von einem halben Quadratmeter abspielen konnte und die Geschichte der Labdakiden dabei dennoch wie ein Blockbuster vor dem inneren Auge ablief. Das war zweifellos auch Verdienst der Regie von Domagoj Maslov. Eine gelungene Arbeit, die lange im Gedächtnis bleiben wird.

Dabei brauchte es kaum Bühnenbild, ein paar weibliche Kleidungsstücke vor der Dunkelheit der Schattenwelt, die immerhin einen rötlichen Ausgang aufwies. Es ging dabei auch um Erlösung, die es für Ismene zu erlangen galt. Zuletzt leuchtete das Rot wie Aurora am Morgen. Unbedingten Anteil an der magischen und fesselnden Wirkung der Inszenierung hatte die Musik von Benedikt Zimmermann, eingespielt von Lukas Roth, Katja Schild und ihm selbst. Sie suggerierte ein geradezu kosmisches Gleiten durch die mythischen Jahrtausende.

Es ist ein großer Vorzug von antiken Mythen, dass wir gar nicht auf die Idee kommen, sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu hinterfragen. Diese Geschichten haben sich in mindestens jedem Jahrhundert der Menschheitsgeschichte wiederholt und den Mythos zu einer unanfechtbaren Wahrheit gemacht, wenn es um die Grundfragen und die Grundeigenschaften des Menschen geht. Hier nahm all das sehr menschliche, sehr frauliche Züge an, dank Sophie Rogall.

Wolf Banitzki

 


Schwester von

von Lot Vekemans / Deutsch von Eva Maria Pieper

Mit Sophie Rogall

Regie: Domagoj Maslov
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