Metropol Theater Pinoccio nach Carlo Collodi


 


Pinocchio für Erwachsene

1881 erschien Carlo Collodis märchenhafte Erzählung in einer italienischen Wochenzeitung unter dem Titel „Le Avventure Di Pinocchio: Storia Di Un Burattino“ (Abenteuer des Pinocchio: Geschichte eines Hampelmanns) als Fortsetzungsgeschichte. Überrascht vom Erfolg, entschloss sich Collodi 1883 dazu, den Text in Buchform zu veröffentlichen. Seither ist die Geschichte weltweit bekannt. In Deutschland trat das Buch mit seiner Erscheinung 1905 unter dem Titel „Hippeltitsch's Abenteuer“, seit 1948 schließlich unter „Die Abenteuer des Pinocchio“ seinen Siegeszug durch die Kinderstuben an. Wie die Inszenierung durch Jochen Schölch am Metropoltheater zeigte, eignet sich der Stoff aber auch bestens dazu, in den Wohnstuben der Erwachsenen erzählt zu werden. So märchenhaft der Inhalt der Geschichte und ihre Protagonisten auch anmuten mag, die Aktualität ihrer Metaphorik ist beinahe bedrückend.

Carlo Collodis Geschichte ist das abenteuerliche Stationendrama der sprechenden Holzpuppe Pinocchio. Der Holzschnitzer Geppetto bekam vom befreundeten Tischlermeister Antonio einen sprechenden Holzscheit geschenkt, den er zu einer Puppe verarbeitete. Er betrachtet den „hölzernen Dummkopf“ (ein Wortspiel, das zu dem Namen führte) als seinen Sohn. Er möchte, dass dieser eine Schule besucht und verkauft dafür seine Jacke. Doch Pinocchio kommt in der Schule nicht an. Immer wieder erliegt er den Verführungen des Lebens, verliebt sich in das Geld und scheut die Pflichten. Er wird betrogen und sogar am Hals aufgehängt. Die Fee mit den blauen Haaren errettet ihn vom Tod und aus einigen schlimmen Situationen. Im Spielzeugland wird er in einen Esel verwandelt und an einen Zirkus verkauft, wo er sich während einer Vorstellung verletzt. Der Direktor verkauft ihn an einen Mann weiter, der auf das Fell erpicht ist. Um Pinocchio zu töten, wird er ins Meer geworfen. Dort verschluckt ihn ein Wal, in dessen Innern er seinen Vater wiedertrifft, der auf der Suche nach seinem hölzernen Sohn vom Meeressäuger verschluckt wurde. Wieder vereint, verspricht der kleine Tunichtgut seinem Schöpfer, ehrlich und anständig zu sein. Dafür wird ihm in Collodis Buch die Verwandlung in einen Menschen aus Fleisch und Blut versprochen.

Hinter den unterhaltsamen Abenteuern verbirgt sich eine rohe Welt, die vom Glanz des Geldes geblendet ist und in der das Dasein nicht selten bloßer Überlebenskampf ist. Jochen Schölchs Inszenierung wurde stark beeinflusst von der Sicht des englischen Musikers Martyn Jacques, der sich vornehmlich mit dem Abgründigen im menschlichen Wesen beschäftigte, mit den gesellschaftlichen Randerscheinungen. Mit seiner Band The Tiger Lillies drang er in die Schattenregionen der Geschichte vor, ohne ein tröstendes Ende zu verheißen. Heraus kam ein Musical (Arrangements: Walter Kiesbauer), dessen Songs an Tom Waits oder an Mark Sandman, Frontmann der Band Morphine, erinnerten und von einigen Darstellern auch in deren Stil vorgetragen wurden. Was mit Collodis Bildern märchenhaft begann, wuchs sich in Jochen Schölchs Inszenierung zu einem bösen existenzialistischen Drama aus, in der es wenig Gnade oder Erbarmen gab. Die Welt zeigte dem die Zähne, der ihre Regeln nicht befolgte. Eine Regel war zwar, dass der Mensch arbeiten muss, jedoch gab es keine Regel, dass der, der arbeitet, auch verschont wird vom Hunger und von der (menschlichen ) Kälte. Die Welt, in der Pinocchio lebte (und die sich von unserem heutigen hochglanzelenden Welt in ihrem Wesen nicht unterscheidet) war die denkbar schlechteste aller Welten.
 
  pinoccio  
 

 

© Hilda Lobinger

 

 

Jochen Schölch ist bekannt für seine intelligente Auslotung der Stoffe und überraschende szenische Lösungen, die sehr häufig an Magie erinnern. Er ist auch bekannt dafür, ungeläufige theatralische Mittel zu verwenden, deren Wirkungsweisen eigentlich tradiert sind. Nicht wenige zeitgenössische Regisseure scheinen von ihrer ureigenen Genialität soweit überzeugt zu sein, dass ihnen des Handwerk vergangener Jahrhunderte gleichgültig geworden ist. Nicht so Jochen Schölch. In „Pinocchio“ spielt er die gesamte Klaviatur des Theaterhandwerks. Die ungewöhnlich elektrisierende Musik (Leitung: Walter Kiesbauer, Andreas Lenz von Ungern-Sternberg) von Thomas Wenke und Live-Band mit sattem Streichersound bis hin zur Neil Young Gitarre (Soundtrack zu Dead Man) verlangte sämtlichen Darstellern (englischsprachigen) Gesang im Stil des oben genannten Tom Waits voller Morbidität bis hin zu angedeutetem italienischen Belcanto ab.  Michael Vogtmann, als vom Leben nicht gerade verhöhnten Geppetto, spielte Pinocchio auf der Mundharmonika zudem seinen Blues.

Schölch inszenierte Tanz, Tanztheater (Choreographie: Katja Wachter), sogar Spitze (Lilian Naumann als Fee), baute Pantomimen ein und ließ seine Darsteller unter Masken (Maskenbau: Ninian Kinnier-Wilson) der Commedia dell'arte agieren. Ausgenommen Pinocchio, dem Denise Matthey ein sehr menschliches Gesicht verlieh, während alle anderen in der Typologie des Maskenhaften abtauchten und sich auch verbargen. Erstaunlich eigentlich, dass dieser wirkungsvolle Verfremdungseffekt so selten auf unseren Bühnen genutzt wird. Hinzu kamen Puppenspieleinlagen mit hohem Symbolgehalt (Puppenbau: Peter Lutz). Vergleichbar wäre diese Inszenierung mit einem Blick in ein Kaleidoskop, das bei jeder Bewegung in neuen Farben und Formen schillerte. Überraschendes allenthalben. Wer erwartet schon, dass plötzlich Haie bedrohlich durch den Raum schweben? Aber auch nicht ohne Witz, insbesondere, wenn Clownfisch Nemo zur Rettung naht.

Alle Vorgänge auf und hinter der Bühne (Ausstattung: Leonie Droste) waren öffentlich, konnten von den Zuschauern eingesehen werden. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb war die Suggestion überwältigend. Die Schauspieler wechselten sichtbar ihre Kostüme, ihre Masken, aber auch die an Robert Crumbs Kafka-Illustrationen erinnernden Projektionsvorlagen für den Bühnenhintergrund von Leonie Droste und Denise Matthey aus. Auf einer kleinen modellhaften Bühne seitlich auf der Spielfläche stand eine Apparatur, die an eine Laterna magica erinnerte. Einige dieser Vorgänge waren, ganz wie in verträumten Kindertagen, ebenso mystisch wie anrührend. Doch wer auf Heimelichkeit gesetzt hatte, ein naives Märchen mit Happy End erwartete, wurde herb enttäuscht. In allem was geschah, war auch ein gerüttelt Maß Horror, kein fiktionaler, sondern ein aus der Realität inspirierter. Und genau das machte die Großartigkeit des Abends aus. Mit kaum vorstellbarer Konsequenz hatten die Beteiligten kunstvoll aus einer lieblichen Kindergeschichte ein bedrückendes Erwachsenendrama gemacht. Schölch ging mit der Geschichte Collodis durchaus frei um, er zerstörte sie mit seiner radikalen Lesart aber nicht.

Und noch eine Tugend des Abends, die gleichsam eine Tugend des Metropoltheater zu sein scheint, soll hier benannt werden. In diesem Theater setzt man nicht auf Einzelpersönlichkeiten, auf  „Stars“ unter den Darstellern. Auch in dieser Inszenierung fand bestes Ensembletheater statt. Jeder der sieben Darsteller beeindruckte, hinterließ seinen eigenen charakteristischen Abdruck, doch keiner stach heraus. Es war deutlich spürbar, dass jeder sein beträchtliches Können in den Dienst der Sache stellte. Heraus kam eine in sich geschlossene, aufregende, fantasievolle und in Erstaunen versetzende Arbeit, der mit ziemlicher Sicherheit großer Erfolg beschieden sein wird. „Pinocchio“ ist eine der besten Arbeiten, die bisher im Metropoltheater zu sehen waren.
Sollte man auf keinen Fall verpassen!


Wolf Banitzki

 

 


Pinoccio

nach Carlo Collodi
mit Musik von Martyn Jacques/The Tiger Lillies

Denise Matthey, Lilian Naumann, Thomas Schrimm, Enrico Spohn, Michael Vogtmann, Elisabeth Wasserscheid, Thomas Wenke und Live-Band

Regie: Jochen Schölch