Kammerspiele König Lear von William Shakespeare


 

 

König Lear auf dem Dorfe

Ländliche Gerüche schlugen einem schon beim Betreten des Zuschauerraums entgegen. Und dann glaubt man seinen Ohren nicht zu trauen: Grunzten da etwa Schweine? Ganz recht, wie sich später herausstellen sollte. Schnell ein Blick auf das Programmheft: König Lear von William Shakespeare. Also doch nicht im falschen Stück. Dann ein Blick ins Programmheft: „Stellen Sie sich vor: Die Einwohner eines Bauerndorfes beschließen, einen Bus zu mieten, um sich in der Stadt eine Aufführung von KÖNIG LEAR anzugucken. Auf dem Heimweg fassen sie den Entschluss, das Stück selber aufzuführen...“ (Koen Tachelet: Lear auf dem Bauernhof) Aha, ...

„König Lear“ ist ein maßloses Stück. Es berichtet von der Maßlosigkeit menschlichen Handelns, oder, wie Jan Kott bemerkt: „In König Lear zerbrechen beide Werteordnungen, die des Mittelalters und die der Renaissance. Am Schluss dieses gewaltigen Pantomime bleibt nur die blutige und leere Erde zurück“. Und weil alles so maßlos ist, fällt es schwer, alles das auch zu verstehen. Es beginnt völlig absurd und dabei doch recht harmlos, als Lear, des Regierens müde, sein Reich unter seinen drei Töchtern aufteilt. Die soll den größten Teil erhalten, die auch die größte Liebe für den Vater hegt und dies auch glaubhaft zu vermitteln weiß. Cordelias Erklärung lautet: „Ich lieb Eur Hoheit, wie’s meiner Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder.“ Der eitle und selbstgefällige Lear begreift nicht, dass hier Aufrichtigkeit von wahrer Liebe kündet, enterbt die Tochter und verweist sie des Landes. Immerhin wird sie noch die Gattin des Königs von Frankreich.

Der eigensinnige und leicht erregbare Lear will fortan mit einhundert Rittern im Gefolge, wechselweise Quartier bei den beiden anderen Töchtern nehmen. Als die Töchter beginnen, ihm, der das Königtum für ein idealistisches Prinzip hält und nicht für ein Amt, und seiner Hybris die Zähne zu ziehen, wendet er sich von ihnen ab und landet verwirrt auf der Straße. Einzig der Narr ist ihm geblieben. Parallel zu dieser Geschichte muss Graf Gloster erleben, wie sein unehelich geborener Sohn Edmund gegen ihn intrigiert und die Familie nachhaltig zerstört. Gloster wird geblendet und zieht, nicht wissend, wer ihn begleitet, mit seinem ehelich gezeugten Sohn Edgar durch das wüste Land. Cordelia kehrt mit dem französischen Heer nach England zurück und wird geschlagen. Am Ende sind alle wichtigen handelnden Personen tot.

Es gibt im Stück die klassischen Schurken, die integeren Getreuen und die ignoranten Ahnungslosen. Lear muss der letzten Kategorie zugeordnet werden. Obgleich er Auslöser des Infernos ist, kann schwerlich der Stab über ihn gebrochen werden. Es braucht alle anderen Charaktere, um die Komplexität Lears und seiner Geschichte verstehen zu können. Friedrich Gundolf schrieb in seinem 1928 erschienen Werk „Shakespeare, sein Wesen und Werk“: „Die Zurückführung seines (Lears – W.B.) Jammers auf eine menschliche Eigenschaft heißt das weggeworfene Zündholz mit dem Waldbrand zu verwechseln.“ Dieses Stück zu inszenieren bedeutet, sich entscheiden zu müssen zu Gunsten oder Ungunsten eines Aspektes. Zu widersprüchlich ist das Stück, zu spannungsgeladen, zu wahnwitzig. Die „Old Vic Company” brachte 1952 eine Inszenierung mit John Gielgud in der Titelrolle auf die Bühne, die so actionreich und fabulös war, dass der absurde Ansatz der Macht- und Landverteilung gar nicht wahrgenommen wurde. 1959 besorgte Glen Byam Shaw eine Inszenierung, in der Lear, gespielt von Charles Laughton, ein leicht seniler und herrischer König war, dem man den absurden Ansatz, ohne zu hinterfragen, freiweg glaubte. In Deutschland setzte Rudolf Sellner am Landestheater Darmstadt Maßstäbe. Er trieb den Lear deutlich in die Abstraktion und schuf ein „Symbol für den schuldlosen Jammer der Kreatur, die erst im Tod den Frieden findet“. (Georg Hensel)

Warum diese unseligen Ausflüge in die Theatergeschichte, denken sie vielleicht? Einzig und allein, um aufzuzeigen, welche Dimensionen menschlichen Denkens und Empfindens hier verhandelt werden, denn es geht um eine objektive (oder weitgehend objektivierte) Betrachtung der Inszenierung von Johan Simons an den Münchner Kammerspielen. Regisseur Simons sieht in Lear einen Menschen, der „mehr leiden muss, als er verdient.“ Er leitet daraus seine Aufgabe ab, „diese großen Themen zu menschlichen Proportionen zurück zu bringen“. Sein Konzept: Lear auf dem Bauernhof. Ging es auf? Ganz entschieden: Nein, denn die Zuschauer sahen ein gewaltiges Königsdrama in den Rahmen eine Bauernhofes gepfercht. Darunter litt das Shakespearesche Drama (Übersetzung Frank Günther) und wohl auch mancher Schauspieler. Mehr noch, es ist schwer vorstellbar, dass irgendjemand den Vorsatz Simons von allein wahrgenommen hätte, wenn er nicht durch das Programmheft informiert worden wäre.

Bert Neumanns Bühne bestand aus einer hölzernen Brücke im Hintergrund und einer mittelgroßen, leicht angeschrägten Drehbühne im Vordergrund, die mit Rollrasen bedeckt war. Eingangs des Stückes war die Brücke mit längsgestreiftem, weiß-rotem Tuch verhängt, das bald heruntergerissen wurde. Königliche oder höfische Pracht wurde durch einen kreisrunden Lamettavorhang um die Drehbühne herum signalisiert, mit dem einige Darsteller im wahrsten Sinn des Wortes zu kämpfen hatten. Der Rollrasen auf der tortenplattenartigen Drehbühne ging bald den Weg alles Irdischen und erklärte die fortschreitende Verwüstung der (auch inneren) Welt. In der skelettartigen Kargheit erinnerte das Bühnenbild an ein Wochenendseminar für Heimwerker bei Obi. Motto: Wie baue ich ein Pergola!

Der Lear ist für reife Schauspieler ebenso ein Traum, wie Romeo für junge Darsteller. Nicht selten krönt diese Rolle ein Schauspielerleben. Wenn dem so ist, bleibt nur zu hoffen, dass André Jung eine weitere Chance bekommt. Er hätte es verdient. Zum „Symbol für den schuldlosen Jammer der Kreatur“ konnte er nicht avancieren. Er war ein Bauern-Lear, ganz wie es das Konzept von ihm verlangte, sprunghaft, gelegentlich mit Furor, auch beängstigend, doch nie der Staatenlenker. Es war die Umgebung, die ihn drückte, die Kleinlichkeit der Umstände, in die er hineinversetzt wurde.

Selten blieben die Darstellerinnen Marie Jung, Sylvana Krappatsch und Annette Paulmann so farb- und konturenlos wie als Töchter König Lears. Kristof Van Boven gab den Edgar, der sich als Bettler und Irrer tarnen musste, um sein Leben zu schützen. Er zappelte in tätiger Selbstzerfleischung durch die Szenerie und war dabei alles, nur kein Hoffnungsträger. Ähnlich erging es Oliver Mallison und Lasse Myhr als Herzöge von Albany und Cornwall. Viel mehr als Stichwörter konnten sie nicht geben. Auch sie blieben Opfer einer sehr kleinkarierten Quadratur im Kreis um Lear. Walter Brombacher spielte seinen Part als Graf von Gloucester artig herunter. Ihm gelang es immerhin noch, aufrichtiges Mitleid mit seiner Figur zu erzeugen. Wolfgang Pregler aber spielte als Graf von Kent den fleischgewordenen Verdruss. Dabei blieb unklar, ob dieses Gefühl nur der Rolle geschuldet war.

Nur zwei Schauspielern gelang es, prägnante Figuren zu schaffen, die über den Abend hinaus in der Erinnerung bleiben werden. Stefan Hunstein, ein Mann der intellektuellen, der differenzierten Töne, brachte einen pragmatischen Edmund auf die Bühne, der frei von Skrupeln stets gradlinig und auch tumb zu Gunsten Edmunds entschied und handelte. Das war nicht frei von Komik, denn so wie Hunstein diesen Typus Mensch spielte, entlarvte er ihn und verankerte ihn gleichsam in der menschlichen Gesellschaft. Für einen Großteil der Komik und der Druckentlastung des drei Stunden und 45 Minuten langen Abends sorgte Thomas Schmauser als Narr. Schmauser war in dieser Rolle ganz bei sich selbst und darum überzeugte auch die kleinste Geste oder der leiseste Seufzer. Er spielte, obgleich ihm viel physischer Aufwand abgefordert wurde, äußerst differenziert und spitzfindig.

Ästhetisch ging eigentlich nichts wirklich zusammen. Das uninspirierende Bühnenbild mit Lichttafel, die stocknüchtern den jeweiligen Ort der Handlung bezeichnete, wurde kontrastiert von den ambitionierten und zum Teil aufwendigen Kostümen von Nina von Mechow. Irgendwie ließen sich Bilder aus Dostojewski-Erzählungen, die jenseits vom Ural angesiedelt sind, nicht verdrängen. Orientierungslosigkeit allenthalben. Sinnlose Gänge, geschrieener Text, unverständliches Wahnsinnsgestammel, Biomulch, Staub ... Und dann kamen da noch die Schweine, schöne, dicke Schweine. Eine Kuriosität, die in die Geschichte eingehen wird: Die Kammerspiele als Schweineweide, - mehr aber auch nicht. Tiere haben auf der Bühne noch nie getaugt, einen Ort zu definieren oder eine Suggestion im Sinn der Geschichte zu erzeugen. Tiere lenken ab und bringen den Betrachter unwillkürlich weg von der Handlung. Eigentlich weiß man das schon seit langem.

Erstaunlich war am Ende der frenetische Beifall für die Darsteller, unterlegt mit einigen unüberhörbaren Buhs für die Regie. Nachgefragt, hieß es: Johan Simons habe vergleichsweise nur wenig Zeit für die Inszenierung gehabt. Immerhin, zum Schweintreiben reichte sie aus.

 

Wolf Banitzki


 

 


König Lear

von William Shakespeare

Peter Brombacher, Stefan Hunstein, André Jung, Marie Jung, Sylvana Krappatsch, Oliver Mallison, Lasse Myhr, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler, Thomas Schmauser, Kristof Van Boven

Regie: Johan Simons
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