Kammerspiele Tauberbach von Alain Platel


 

 

Die Schönheit des Unvollkommenen

Alain Platel ist studierter Psychologe, der seine Berufung ans Theater auch durch die Arbeiten Pina Bauschs erfuhr. Bauschs Tanztheater überwand die Barrieren zwischen dem Wort und dem körperlichen Ausdruck und gelang eine bis dahin nie erreichte Direktheit in der Verschmelzung zwischen Schauspiel und Tanz. Für „Tauberbach“ ließ sich Alain Platel aus zwei Quellen inspirieren, dem Film „Estamira“ von Marcos Prado  (Brasilien 2004) und dem musikalischen Projekt von Artur Zmijewski, der 2002 mit dem Chor der Samuel-Heinicke-Schule für Schwerhörige und Gehörlose die Bachkantate „Jesu, der du meine Seele“ in der Leipziger Thomaskirche zur Aufführung brachte.

Den roten Faden für „Tauberbach“ lieferte die Geschichte von Estamira, die, 63 Jahre alt, an Schizophrenie leidet und zwanzig Jahre lang auf der Müllhalde von Jardim Gramacho in der Nähe von Rio de Janeiro überlebte. Zu Drehbeginn hatte sich Estamira in psychiatrische Behandlung begeben. Doch sie kehrte immer wieder auf die Müllhalde zurück, wo sie glücklich zu sein schien. Dort, inmitten von Outlaws, die sich längst aufgegeben hatten, schuf sie ihr eigenes Universum, ihre eigene Sprache und kommunizierte mit den Stimmen außerhalb von ihr, mit den Stimmen in ihr und mit der Stimme über ihr. Ihr Kampf war ein sehr ernsthafter und in höchster Not rief sie ihren Gott an. Estamira nannte es, „mit Gott telefonieren“. Marcos Prado  schuf mit dem Bild von Estamira ein Bild von einer Urfrau, die alles Leid dieser Welt auf sich vereinte, die aber ungeachtet dessen an ihrem Lebenswillen festhielt. Sie formulierte unvermittelt verblüffend klare Vorstellungen von der Welt, aber auch fundamentale Wertsätze, die der Zivilisation als Basiswissen scheinbar abhanden gekommen sind.

Für die ästhetische Brechung dieser zum Teil unerträglichen Realität berief sich Alain Platel auf den Gesang des Gehörlosenchores. Hinter diesem musikalischen Projekt steht ebenso der Gedanke, dass J.S. Bach nicht nur der geniale Schöpfer war, sondern ein Mensch, der in seinem Leben durch alle möglichen Höllen gehen musste. Was läge also näher, einmal nicht der zum Common sense geronnenen Vorstellung von hochästhetisierter Darstellungsweise zu folgen und den Versuch zu wagen, auf die intellektuellen und technischen Fähigkeiten von  Hochleistungssängern zu verzichten, statt der Vollkommenheit die (gesellschaftliche oder körperliche) Behinderung zu Wort kommen zu lassen. Der erstaunlichste Effekt dabei war, dass auch darin eine beeindruckende und berührende Schönheit schlummerte, die der „Bildungsbürger“ jedoch bislang nicht sah, weil er sie wohl gar nicht für möglich hielt. Es ist das Verdienst von Alain Platel und seinen sechs Darstellern, diese Schönheit herausgefiltert und sichtbar gemacht zu haben. Mit seiner radikalen Theaterauffassung beschreitet Platel neue Wege und schreibt wohl auch Theatergeschichte. In dieser Auffassung liegt allerdings auch die Gefahr, in Zeiten der Dekadenz und des ästhetischen Überdrusses, menschliches Elend gewinnbringend zu vermarkten, mit dem Dilemma dieser Welt und der künstlerischen Betrachtung von der bourgeoisen Position herab „Marktlücken“ aufzutun. Doch wer diese Performance gesehen hat weiß, dass hier aufrichtiger, mitfühlender und wahrhaftiger Wille am Werk war.

Elsie de Brauw schlüpfte in die die Rolle der Estamira und zog brabbelnd und lamentierend ihre Kreise über die Müllkippe der Zivilisation, von Alain Platel und les ballets C de la B als ein Meer aus textilem Müll dargestellt. Eine Schubkarre und zwei auf und ab schwebende Beleuchtungsbrücken waren die einzigen Elemente in der Endlosigkeit der Verrottungsgeschichte. Sie, die in ihrem Überlebensdrang unentwegt Aktive, wurde umkreist von den auf ihre letzten vitalen Interessen zurück geworfenen Trabanten. Es waren Kreaturen, nicht immer Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft, so sie jemals einen einnahmen,  verloren hatten. Ihr Kreisen im Überlebenskampf hatte eine eigene Geografie und individuelle Bewegungsmuster, scheinbar willkürliche, kaum voraussehbare. Sie waren die „Bastarde“ der Gesellschaft, Spastiker, Deformierte, Verängstigte, Verzweifelte. Ihre Bewegungen wurden, begleitet von dem kakofonen Gesang, der in Gebrüll, in Geröhre kippte und zum Teil Entsetzen erzeugte, zum „Bastardtanz“. Nicht selten entstand der Eindruck, dass der Betrachter, die Bachschen Klänge in schönster Reinheit im Ohr, in eine vorzivilisatorische Zeit zurückgeworfen wurde, in der die Artikulation vorerst nur Wille, dieser aber schon spür- und ahnbar war. Selbst dieser Ausdruck verfügte bereits über eine innere Logik, auch über eine Ästhetik, die wir allerdings allzu leichtsinnig als die Kategorie des Hässlichen begreifen. Die Darsteller belehrten uns eines Besseren. Ein Schlüsselwort im Verständnis der Vorgänge war Scham. Diese (dargestellte) Scham verwandelte die Nacktheit, das Enblößtsein (auch das innere) durch den Filter des verzweifelten Verbergens in Schönheit, in eine zweckfreie Schönheit, wie wir sie vornehmlich in der Natur finden. Die Darstellung aller Beteiligten verriet Meisterschaft. Das Unvollkommene wurde in höchster Perfektion dargeboten.

Das Projekt „Tauberbach“ gefällt sich nicht in seiner ungewöhnlichen Ästhetik. Es begnügt sich auch nicht damit, uns ein apokalyptisches Bild von der Realität zu zeigen, in der fern von unserem Mitgefühl Zeitgenossen vegetieren. Alain Platel gab uns mit Estamira, wie zuvor schon der Filmemacher Marcos Prado, eine Erlöserfigur, und zwar eine Erlöserfigur, die mit Gott hadert, ihn auch des Bösen beschuldigt. Wie glaubhaft kann eine Holzfigur am Kreuz sein, angesichts einer Figur wie Estamira? Wenn es ums Überleben geht, ist uns diese Frau um ein Vielfaches überlegen. Wer hätte die Kraft, ihren Platz einzunehmen?

Der artifizielle Ansatz aller Handlungen, aller Sprache, allen Gesangs transzendierte das Dokumentarische ins Universale. So wurden Tänzer zu Gedanken, zu Tieren, zu Bestien, zu Brüdern und Schwester. Am Ende im Gesang vereint, fand sich die Schar der vermeintlich Ausgestoßenen in einer wahrhaften Gesellschaft wieder, die die Kontrolle über ihr Sein (zumindest für den Augenblick) zurückgewonnen hatten und die für und nicht gegeneinander standen. Das war eine schöne Vision, frei von Kitsch und Sentimentalität. Mit dieser letzten Szene verarbeitete Alain Platel hommageartig auch die Erkenntnisse Fernand Delignys über Autismus und Aggression, deren Quintessenz darin besteht, dass der Frieden nur errungen werden kann, wenn das Anderssein von der Gesellschaft toleriert wird.

Das Publikum bejubelte die (zweite) Vorstellung vorbehaltlos und einhellig. Doch ehe der Applaus losbrach, mussten sich die Zuschauer, wie die Darsteller auch, aus dem Bann des Gesehenen und Gehörten lösen. Es war ein magischer Abend, der uns von der Schönheit des Unvollkommenen überzeugte. So, wie die ungewöhnliche und magische Ästhetik in den Bann schlug, rüttelten die Bilder über den wahren Zustand dieser Welt auf, ohne sie in einem platten Realismus vorzuführen. Die Inszenierung sollte ein Muss für jeden Theatergänger sein. Gratulation den Machern!

 

Wolf Banitzki

 


Tauberbach

von Alain Platel

Eine Koproduktion von Les Ballets C de la B, Münchner Kammerspiele und NT Gent zusammen mit Theatre National de Chaillot (Paris), Opéra Lille, KVS Brüssel, TorinoDanza und La Batie, Genf. Mit Unterstützung der Flämischen Regierung, der Stadt Gent, Provinz Ostflandern.

Bérengère Bodin, Elsie de Brauw, Lisi Estaras, Ross McCormack, Romeu Runa, Elie Tass

Regie und Konzept: Alain Platel