Kammerspiele Die Zofen von Jean Genet


 

 

Gut und Böse als siamesische Zwillinge

Jean Paul Sartre nannte das Leben Genets in seinem Buch „Saint Genet“ (Schriften zur Literatur) ein liturgisches Drama und beschrieb es wie folgt: „ Ein Kind stirbt vor Scham, ein Ganove tritt an seine Stelle; der Ganove wird später von dem Kind heimgesucht.“ Genet sieht es mit Entsetzen, mit dem gleichen Entsetzen, mit dem Kafkas Gregor Samsa seine Verwandlung in ein Ungeziefer konstatieren musste. Höchsten Ausdruck fand dieses Entsetzen  Genets in seinem Roman „Querelle“: „Querelle konnte sich nicht an die nie formulierte Idee gewöhnen, dass er ein Ungeheuer war.“

Der „Ganove“ Genet saß etwa ein Dutzend Male in unterschiedlichsten Besserungsanstalten und Gefängnissen ein und blieb nur dank der persönlichen Fürsprache Sartres und Cocteaus beim französischen Staatspräsidenten von lebenslanger Haft verschont. Das „Kind“ Genet hingegen trieb den Mann an, seine Revolte literarisch auszuleben, was dieser tabulos und mit titanischer Sprachgewalt tat. Zentrales Thema war der Tod. Das unterschied ihn nicht unbedingt von anderen Schriftstellern und Dichter. Was ihn unterscheidet ist: „dass (die geistigen Exerzitien) fast nie seinen künftigen Tod, sein Sein zum Tode betreffen, sondern sein Tot-sein, seinen Tod als vergangenes Ereignis.“ Hat Genet jemals getötet? Die Frage beantwortete er nicht. Doch er schreckte nicht davor zurück, von der Schönheit des Mordens (nicht des Mordes) zu schwärmen. Dieser Akt bedeutete ihm Revolte und Freiheit.

Auch in „Die Zofen“, die erste Fassung kam 1947 im Pariser Théâtre de l'Athénée unter heftigen Protesten auf die Bühne, die letztgültige erschien 1958, geht es um Mord. Die Schwestern Claire und Solange, Zofen in einem gutbürgerlichen Haushalt, haben mittels gefälschter Briefe den Hausherren ins Gefängnis gebracht. Der Inhaftierte avanciert bei den beiden Frauen sogleich zum angebeteten, ruchlosen Verbrecher. Die Vorstellung, ihm freiwillig bis in die entfernteste Strafkolonie zu folgen, entzückt. Doch vorerst wird die Ermordung der „gnädigen Frau“ geplant, minutiös und mit großem Aufwand. Schließlich sollen die beiden das Erbe der Dame antreten und das ist mehr als verlockend. Als der tödliche Lindenblütentee serviert wird, erfährt die Dame des Hauses, dass der Ehemann auf freiem Fuß ist und sie in der Stadt erwartet. Madame verzichtet auf den Lindenblütentee und eilt zu ihrem Gatten. Champagner ist angesagt. Claire und Solange bleiben desillusioniert zurück. Doch sie verzichten nicht auf ihr Vorhaben, da es kein Zurück gibt. Früher oder später wird ihre Intrige auffliegen. Claire wandet sich in eine Robe der Hausherrin und nimmt den vergifteten Tee zu sich. Solange stellt sich daraufhin den Behörden. Sie wird mit dem unerschütterlichen Bewusstsein, die Schwester für immer in sich zu tragen, ins Gefängnis gehen.

Für Genet waren das Gute und das Böse unauflöslich metamorphisch miteinander verbunden und so stellt sich diese Dualität auch im Schicksal der beiden Schwestern dar. Immerhin war Solange bereit, auf das mörderische Vorhaben zu verzichten. Doch Claire, das Biest, wie sie sich selbst nennt, dringt auf Konsequenz. Fraglos hat dieses Drama, dass die Gesellschaft als eine Klassengesellschaft enttarnt, politische Dimensionen. Doch um die ging es weder Genet, noch Stefan Pucher, der das starke Stück Dramatik auf die Bühne der Münchner Kammerspiele zauberte.

Barbara Ehnes Bühnenbild bestand in einem großen ovalen, tunnelartigen Raum von bestechender Eleganz, in Schwarz oder Anthrazit gehalten. Im Hintergrund befand sich ein Kamin mit Spiegel. Gazevorhänge im Hintergrund und an der Bühnenrampe dienten als Videoprojektionsflächen. Als im zweiten Teil die Hausherrin auftrat, kamen einige wenige, nicht minder elegante Möbel hinzu. Dass dieser Ort während des Spiels eine zwingende Magie entfaltete, lag nicht zuletzt an dem ausgefeilt und opulent eingesetzten Licht von Stephan Mariani.

Stefan Puchers Inszenierung war in jeder Hinsicht eine hochartifizielle Angelegenheit. Neben der suggestiven Raumbefindlichkeit kamen Videosequenzen (Livecam: Ute Schall) oder Filmzitate hinzu, die den Raum zusätzlich überhöhten. So begann das Stück mit einem Zitat aus Genets 1950 gedrehten Film „Un chant d’amour“, einem Werk, das wegen seiner homosexuell-pornografischen Bilder lange nicht zur Aufführung kam. Auf der vorderen Leinwand erschienen Claire und Solange, die sich gegenseitig mittels eines Strohhalms Zigarettenrauch in die Münder bliesen. In Genets Film rauchen zwei homosexuelle Häftlinge, die einander heftig begehren, mittels eines Strohhalms gemeinsam eine Zigarette durch ein kleines Loch in der Wand, die die beiden trennt.

Im Verlauf der Vorstellung wurden immer wieder Sequenzen aus dem Genet-Film eingespielt, deren fast hypnotischer Charakter zusätzlich an Kraft gewannen, da sie, wie z.B. die Bilder von Georg Baselitz, auf dem Kopf stehend abgespielt wurden. Auch Fassbinders, sechs Monate nach dessen Tod erschienenem Film „Querelle“ entlieh Pucher Bilder und auch den Song „Each man kills the thing he loves“ (im Fassbinder-Film von Jeanne Moreau dargeboten). In einer eingespielten, ebenfalls verkehrt herum projizierten Szene schickten sich Querelle (Brad Davis) und Gil (Hanno Pöschl) an, sich gegenseitig abzustechen, während sie einander begehrten und sich gegenseitig ihre physische Zuneigung gestanden. Vor der Leinwand vollführen Claire und Solange den gleichen tänzerischen Kampf mit Klappmessern. Am Ende, wenn Claire den todbringen Tee zu sich genommen hat, erlebte der Zuschauer, wie die beiden Schwestern in der Videoprojektion miteinander verschmolzen und zu einer Person wurden.

Es waren allesamt Zitate, die die „unzivilisierte“ und darum so verstörende Weltsicht Genets erklärten und die Fassbinder mit folgenden Worten kommentierte: „Das hängt damit zusammen (...), dass man, um vollständig zu sein, sich selber noch einmal braucht. (...) Jeder, der sich an Grenzen begibt, oder an gesellschaftliche Grenzen, oder alles, was sie übertritt, muss zwangsläufig in dieser Gesellschaft pornographisch sein, und jede denkbare Utopie birgt natürlich in sich die Gefahr faschistoider Momente.”

Die beiden ungleichen Schwestern wurden von Brigitte Hobmeier (Claire) und Annette Paulmann (Solange) gespielt. Frau Hobmeier drohte mit ihrer mörderischen Energie schier zu zerbersten. Ihrer Entschlossenheit begegnete eine zurückhaltendere, bescheidenere Annette Paulmann so sinn- wie erfolglos mit Erklärungsversuchen, die eine spießige (Dienstboten-) Weltsicht verrieten. So artifiziell, wie der ganze Raum angelegt war, so artifiziell waren auch die wunderbaren Kostüme von Annabelle Witt und auch die stark überzeichneten Masken und Perücken, die beinahe clowneske Charaktere hatten. Die Schwestern waren in ihrer Hässlichkeit, Produkt ihrer Verbannung in die Subalternität, ohne reale Chancen auf Selbstbestimmtheit, Entfaltung oder Befreiung, auch bedauernswerte Kreaturen.

Dieser Eindruck verdichtete sich noch, als die beiden Schwestern durch die Gnädige Frau kontrastiert wurden. Als Wiebke Puls den Bühnenraum durchmaß, schrumpften die Zofen unweigerlich ins Zwergenhafte. Dabei war die Größe der Gnädigen Frau nur äußerlich. Wiebke Puls gab eine egoistische Zynikerin mit Anflügen von Dämlichkeit. Diese komplexe Charakteristik konnte sich auch schon mal in einem einzigen Satz äußern, wenn sie zum Beispiel bemerkte, wie gut es den Zofen doch ginge, denn sie bekämen die schönen Dinge des Lebens geschenkt, während sie selbst sich diese Dinge kaufen müsste. Eines allerdings ließ sie nie aufkommen, Zweifel am sozialen Unterschied: „Durch mich, durch mich allein, kommt der Zofe ihr Dasein zu. Durch mein Rufen und meine Gesten.“

Nicht nur, dass der Zuschauer am Premierenabend eine grandiose, in sich geschlossene und ästhetisch absolut überzeugende Inszenierung erleben konnte, es wurde ebenso Schauspiel in Vollendung geboten. Was die drei Damen darbrachten erzeugte Gänsehaut und ließ auch schon mal den Atem stocken. Lange Rede, kurzer Sinn: „Die Zofen“ an den Münchner Kammerspielen ist großartiges Theater, wie man es selten zu sehen bekommt. Glückwunsch!

Wolf Banitzki

 


Die Zofen

von Jean Genet

Brigitte Hobmeier, Annette Paulmann, Wiebke Puls, Ute Schall

Regie: Stefan Pucher