Kammerspiele Mittelreich nach dem Roman von Josef Bierbichler
Erzähltheater – leider kein erzählendes Theater
2011 erschien Josef Bierbichlers Roman „Mittelreich“. Es ist nicht die erste literarische Arbeit des beliebten und verehrten bayerischen Schauspielers, der auf allen wichtigen Bühnen im deutschsprachigen Raum zuhause ist, und sie trägt autobiografische Züge. Bierbichler erzählt anhand dreier Generationen von Seewirten ein ganzes Jahrhundert, nämlich das an menschlichen Katastrophen bislang reichste zwanzigste. Es geht um Erinnerungen, individuelle und kollektive, um ihre Pflege, ihre Leugnung und um die Nachwirkungen bis ins dritte Glied der Familie. Bierbichlers Roman ist alles andere als ein heiterer, optimistischer Text. Vielmehr kündet er von einer zwingenden Schicksalhaftigkeit, hervorgerufen durch das Erbe. Und hier kann Erbe getrost im weitesten Sinn genommen werden. Der Seewirt, heil davongekommen aus dem apokalyptischen zweiten Krieg, erbt vom Vater, der den ersten Krieg kennengelernt hatte, die Seewirtschaft. Er ist nun Wirt und Bauer zugleich. Zu seinem Erbe gehören einige Dauergäste, wie die Kammersängerin, die, mit einer erklecklichen Pension ausgestattet, die Seewirtschaft zu ihrem letzten Wohnsitz auserkoren hatte. Es wurden zudem einige Flüchtlinge auf den Hof geschwemmt: Das Fräulein Zwittau, wie der Name andeutet, ein androgynes Zwitterwesen, oder Viktor Hanusch aus Kattowitz.
Jeder von ihnen hatte seine Geschichte, sein Trauma: Der Seewirt kämpfte gegen die Kriegserinnerungen mit vorgeblicher Amnesie. Sein Sohn, der Semi, wurde in der Klosterschule von Mönchen missbraucht. Der junge Seewirt hatte eine musikalische Begabung, die er gern gelebt hätte. Doch die ökonomischen Zwänge waren übermächtig. Und Theres, Frau des Seewirts und Semis Mutter, wurde von den Schwestern des Seewirts deklassiert und am Ende sogar vom Ehemann verstoßen. Fräulein Zwittau war wegen ihrer physischen „Andersartigkeit“ ausgestoßen und auch Viktor fand kein wirkliches Zuhause und blieb der ewige Flüchtling.
Josef Bierbichlers Roman „Mittelreich“ ist ein bayerisches Buch; es ist aber zugleich auch ein gut illustriertes Abbild deutscher Geschichte. Anna-Sophie Mahler benutzte Passagen des Textes, um ein Musiktheater daraus zu machen. Die Texte von Bierbichler wurden dabei „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms gegenüber gestellt. Um dieses Werk zur Aufführung bringen zu können, wurde ein „Orchestergraben“ mit zwei Flügeln und Pauke installiert. Zu den sechs Darstellern der Kammerspiele wurde das „Junge Vokalensemble München“ engagiert. Bereits nach kürzester Zeit wurde deutlich, dass hier nicht die Bierbichlertexte mit Musik dargebracht wurden, sondern das Brahmswerk im Zentrum der Dramaturgie stand. Der musikalische Leiter Bendix Dethleffsen erklärte im Programmheft: „Mich interessiert Musik im Theater meistens dann, wenn sie keine untermalende oder atmosphärische Funktion hat, sondern durch ihre Eigenständigkeit theatral wird.“ Dies wurde umso deutlicher, da man sich nicht einmal der Mühe unterzogen hatte, die Texte in Dialogform zusammen zu führen. Es wurde vornehmlich erzählt; es wurde kaum miteinander geredet. Bei der Auswahl dominierte Drastik: Kindervergasung, Massenvergewaltigung, Sauschlachten (als Ersatzhandlung für Menschenschlachten) oder Hetze gegen Flüchtlinge in der Sprache des Nationalsozialismus.
Thomas Hauser © Judith Buss |
Heraus kam ein musiklastiges Konglomerat, das nicht in sich verschmolz und in dem die Schauspieler deutlich unter ihren Möglichkeiten blieben - bleiben mussten, weil vordergründig deklamiert und kaum gespielt wurde. Auch war der Gesang der Schauspieler nicht immer eine Ohrenweide. Immerhin handelte es sich um Musik von Brahms und Mahler und nicht um Brechts „Dreigroschenoper“, für die der Autor ausgebildete Sänger verboten hatte. Bereits die Textauswahl ließ wenig Raum für Hoffnung. („Alles, was kommt wird schlimmer als alles, was war!“ Textbuch zur Inszenierung, Stand 13.10.15) Die Wucht und das Pathos des Brahmschen Werkes indes erhöhte den Druck noch einmal. Obgleich mit sprachgewaltigen Bildern hantiert wurde und aufwühlende Musik erklang, waren die zwei Stunden und zwanzig Minuten (eine Pause) von einigen quälenden Längen durchsetzt. Den Machern (Anna-Sophie Mahler/Regie und Bendix Dethleffsen/Musik) war daran gelegen, dem „Themenkomplex um individuelle und kollektive Schuld und Verdrängung“ bei Bierbichler den zentralen Begriffen „Vergänglichkeit, Trost und Hoffnung“ bei Brahms gegenüber zu stellen. Obwohl „Musik-Theater“, naturgemäß Vorgänge voller Sinnlichkeit und Emphase, war der Inszenierung die Kopflastigkeit deutlich anzumerken.
Beeindruckend war immerhin das Bühnenbild von Duri Bischoff. Die Guckkastenbühne bestand aus dem hellen, perfekt gemalerten und beinahe steril anmutenden Gastraum der Seewirtschaft. Im Hintergrund befand sich eine große Falttür. Als die Geschichte die zeitliche Ebene in Richtung Vergangenheit verließ, wurde die Tür geöffnet und sichtbar wurde derselbe Gastraum in seiner heruntergekommensten Gestalt in den ersten Nachkriegsjahren. Leider wurde diese wunderbare konzeptionelle Idee der zeitlichen Ebenen im Spiel nicht konsequent umgesetzt. Zumindest wurde eine Umsetzung nicht deutlich sichtbar.
Steven Scharf war mit der Rolle des Semi betraut. Am besten charakterisiert diese Figur vielleicht folgende Selbstbeschreibung: „Ich bin jetzt 17 Jahre alt und habe gerade die 6. Klasse des Gymnasium wiederholt. Ich fühle mich seitdem gefestigt.“ Bedauerlicher Weise spielte Scharf einen Sprechfehler, wie man sie bei Menschen schlichten Gemüts mit druckvollem Mitteilungsbedürfnis findet. Das führte zu einigen akustischen Unverständlichkeiten. Thomas Hauser spielte sowohl den Jungen Semi als auch den Jungen Seewirt, letzteren als hochsensiblen und fragilen jungen Mann. Stefan Merkis Alter Seewirt und Seewirt unterschieden sich nicht. Beide waren gleichermaßen herrisch, unzugänglich und verschlossen. Verschlossen gab Jochen Noch seinen Viktor. Der allerdings war introvertiert in seinem Fremdsein und nicht wegen eventueller „Leichen im Keller“. Annette Paulmann gelang es als Kammersängerin und als Theres noch am ehesten, Figuren zu erschaffen und über eine Typologie hinaus zu gelangen. Damian Rebgetz erfüllte hingegen den Typus des Travestiten (eigentlich geschlechtslos) in der Rolle der Fräulein Twitter klischeehaft und frei von Überraschungen.
Ein weiteres Experiment also, tradiertes Theater zu umschiffen und mit neuen Formen zu erstaunen und die Horizonte der Zuschauer zu erweitern. Als gelungen kann man es schwerlich bezeichnen, denn unterm Strich war es sprödes Erzähltheater mit Musik, dem es an Eingängigkeit mangelte. Die Inszenierung kränkelte an einer fehlenden klaren Dramaturgie, die auf eine höhere Ebene als einer bloßen Gegenüberstellung hätte führen können. Dann wäre es nämlich erzählendes Theater geworden und das ist eine gänzlich andere Qualität als Erzähltheater.
Wolf Banitzki
Mittelreich
nach dem Roman von Josef Bierbichler / Musiktheater
Mit Steven Scharf, Thomas Hauser, Stefan Merki, Annette Paulmann, Jochen Noch, Damian Rebgetz Inszenierung: Anna-Sophie Mahler |