Kammerspiele  Das Leben des Vernon Subutex nach Virginie Despentes


 

Politisch unkorrekt, aber ehrlich

„Das Leben des Vernon Subutex“, ein Gesellschaftsroman in drei Bänden, ist ein sehr komplexes Werk, obgleich der Focus eindeutig nach unten gerichtet ist, um das Klischee von „Unten“ und „Oben“ einmal unkommentiert zu benutzen. Beinahe sämtliche Figuren sind Bodensatz der Gesellschaft und somit, um auch dieses Bild zu bemühen, Fundament, auserkoren Sediment zu werden. Man könnte sie auch erfolglos nennen, doch da Erfolg in unserer neoliberalen Welt vornehmlich an den Besitz materieller Güter gekoppelt ist, ist diese Klassifizierung problematisch. Nehmen wir einmal Vernon Subutex (Subutex gehört zur Gruppe der opioiden Schmerzmittel), der mit seinem Plattenladen Pleite ging und den Anschluss an die Gesellschaft (der Erwerbstätigen) immer mehr verlor und zuletzt auf der Straße landete.

Wenn dieser Vernon Subutex jedoch als DJ auflegt und Musik macht, geraten Hardcorenazis ins Schwärmen. Vernon hat eine Aura, die die Menschen um ihn herum verändern und die ihn sehr anziehend macht. Vernons Abstieg war besiegelt mit dem Drogentod des Rockstars Alex Bleach, der Vernon bis zu seiner finalen Überdosis die Miete zahlte. Vernon driftet durch die Gesellschaft, kommt tageweise bei Bekannten und Freunden unter, sämtlich durchgeknallte und sehr schräge Typen. Zuletzt bleibt Vernon nur noch die Straße, doch die genannten Typen bleiben auf stetigen Umlaufbahnen um Vernon. Erzählt werden die Geschichten dieser Personen, die entweder paranoid oder sexbesessen, kokainsüchtig oder erfolglos, aggressiv oder verlassen, nationalistisch identitär oder muslimisch sind.

Stefan Pucher brachte diesen gewaltigen Stoff in einer mehr als dreistündigen Inszenierung auf die Bühne der Münchner Kammerspiele. Es war ein gesellschaftliches Kaleidoskop, das in immer wechselnden Farben Facetten des gesellschaftlichen Lebens der Abgehängten, der Gescheiterten, der Bodenlosen aufscheinen ließ. Neben dem Grundkonflikt, nämlich der Unfähigkeit, ein bürgerliches Leben zu führen, was sie untereinander in natürlicher Uneinigkeit gemeinsam verband, gab es ein Interview von Alex Bleach, Abdoul Kader Traoré per Video, in dem er Tacheles redete, was den Filmproduzenten Laurent Dopalet (Jochen Noch) in Panik versetzte und veranlasste, die Hyäne, gespielt von Wiebke Puls, zu engagieren. Die Hyäne ist eine Detektivin ohne Lizenz, die zuvor als Drogendealerin ihre Brötchen verdiente und nun als Troll im Bereich Cybermobbing extrem erfolgreich war. Sie sollte die Kassetten, die sich im Besitz von Vernon befanden, für den paranoiden Filmproduzenten beschaffen. Doch dieser Konflikt wird, wie alle anderen auch, keiner wirklichen Lösung zugeführt. Doch darauf kam es auch nicht an.

Stefan Pucher hatte sich von Barbara Ehnes eine Bühne entwerfen lassen, die einem Amphitheater mit aufsteigenden Sitzreichen glich. Bleiben wir bei diesem Vergleich, so befand sich davor, in der ersten Reihe des Parketts, die Szene, also der Spielort. Dort hielten sich die Schauspieler auf und erklommen jeweils die Sitzreihen. An der Rückwand war ein halbrunder großer Screen angebracht, auf dem die Videos (Meika Dresenkamp) eingespielt wurden. Ein weiterer Screen davor wurde temporär aus dem Bühnenboden herabgelassen. Pucher kleckerte wahrlich nicht. Er gab jedem seiner Darsteller Raum für große Auftritte und die wussten sie zu nutzen. Allen voran Annette Paulmann als Obdachlose Olga. In ein zotteliges Fell gewandet, verkörperte sie eine Autonomie, die mehr an ein unbeherrschbares Naturereignis erinnerte, als an menschliches Selbstbewusstsein. Wo ihre Stimme erklang, schwiegen die Vögel, - oder kuschten die Nazis. Derer gab es zwei: Loïc und Noël, beeindruckend und keinesfalls denunzierend von Vincent Redetzki und Daniel Lommatzsch gespielt.

  Das Leben des Vernon Subute  
 

Samouil Stoyanov, Jelena Kuljić, Maja Beckmann

© Arno Declair

 

Es wäre müßig und es würde den Rahmen sprengen, sämtliche Darsteller einer Betrachtung zu unterziehen, nur so viel: sie waren durch die Bank grandios in ihren Rollen. Stefan Pucher vermag es meisterhaft, Darsteller zu führen und Figuren zu zaubern. Doch an einer Darstellerin kommt man an dieser Stelle keinesfalls vorbei, an Jelena Kuljić. Sie gab den Vernon Subutex, introvertiert, leise und unprätentiös. Jelena Kuljić spielte wenig, dafür sang sie umso mehr und wenn das geschah, stockte bisweilen der Atem. Mit ihrer, das Dilemma der Realität vergessen machenden Musikalität kam es zu Momenten der Verrückung, der Verrückung aus eben dieser Realität. Die Realität war eine gnadenlose, eine wahre Kloake, in der es keine Tabus gab. Und hier lag eine große Qualität des Stücks und auch der Inszenierung, denn „political correctness“ gab es nicht. Die wurde in der buchstäblichen Pfeife geraucht. Dank der Radikalität der Autorin Virginie Despentes kommt jeder zu seinem ureigenen Wort. Und da sie das alle tun, hat das schon wieder einen Anschein von brauchbarer Demokratie. An der realen Demokratie kommen ja zunehmend Zweifel auf.

Zugegeben, manche Bilder, vornehmlich den Wörtern entsprungen, ansonsten blieb es durchaus erträglich, fast bieder auf der Szene, bekommt man unschwer wieder aus dem Kopf. Doch das ist der Tribut, den man zollen muss, wenn man sich auf Virginie Despentes einlässt. Ihr erster Film, entstanden nach ihrem Romanerstling „Baise-moi - Fick mich!“, ist ein Film voller pornografischer Szenen und Blutorgien a la „Natural Born Killer” von Oliver Stone und in Frankreich immerhin verboten. Virginie Despentes scheint keine Tabus zu kennen. Nun mag man darüber streiten können, in wie weit mit diesen Werken die Realität wiedergegeben wird. Dabei sollte man nicht vergessen, dass es sich um Kunstwerke handelt und denen muss zugestanden werden, die Realität zu überzeichnen, auch zu erschrecken und zu verunsichern, denn das fördert die Sensibilität des Betrachters. Der „gute Geschmack“ wird allemal auf die Probe gestellt, doch es lohnt sich.

Berührend und in gewisser Weise auch erlösend, war der fiktionale Schluss. Zuvor hatten sich alle Protagonisten zusammengefunden und darüber diskutiert, wie es denn weitergehen solle/könne. Erste These: An allem sind ohnehin die Männer schuld, also, schnipp-schnapp, kastrieren. Genau so politisch unkorrekt ging es auch weiter. Doch es entstanden mit der Zeit, wie Texte auf dem Screen verrieten, Vernon Subutex-Sekten, die bis ans Ende des 21. Jahrhunderts nicht ausgerottet werden konnten. Und dann fiel ein Satz, der die Größe des Werkes noch einmal unterstrich. Sinngemäß: „Es gelang ihnen (den Vernon Subutex-Anhängern), aus dem Gefängnis Europa zu fliehen, um die großen Ebenen auf der Erde zu besiedeln.“ Alles deutet im Moment darauf hin, dass es so kommen könnte, dass Europa zum Gefängnis wird.

Bleibt noch zu klären, wie Vernon Subutex in aller seiner Unauffälligkeit und Unambitioniertheit zu einer Führerfigur werden „könnte“. Die Frage ist leicht beantwortet: Durch die Musik (Musik Christopher Uhe). Vernon kennt alle Musik und er hat ein unglaubliches Gespür für die Musik, die die Menschen unterschiedlichster Schichten, unterschiedlichster Herkunft, unterschiedlichster Bildungsgrade und unterschiedlichster kultureller Zugehörigkeiten zusammenbringt, auch im Tanz. Und so entsteht am Ende ein berührendes Bild, das nicht gänzlich frei von Kitsch ist und das vermutlich auch nicht sonderlich realistisch ist. Es ist ebenso unwahrscheinlich wie das „In-den-Himmel-Radeln“ der Favela-Bewohner in Zeno Cosinis „Das Wunder von Bamba“. (Vittorio de Sica hat die Erzählung unter dem Titel „Das Wunder von Mailand“ verfilmt.) Aber schön ist es allemal und wo Schönheit ist, da ist Hoffnung. Eine sehenswerte und kurzweilige Inszenierung, wärmstens empfohlen!

Wolf Banitzki

 


Das Leben des Vernon Subutex

Nach der Romantrilogie von Virginie Despentes

Mit Maja Beckmann, Jan Bluthardt, Zeynep Bozbay, Thomas Hauser, Abdoul Kader Traoré, Nils Kahnwald, Gro Swantje Kohlhof, Jelena Kuljić, Daniel Lommatzsch, Kamel Najma, Jochen Noch, Annette Paulmann, Wiebke Puls, Vincent Redetzki, Samouil Stoyanov

Inszenierung: Stefan Pucher
Theaterfassung: Tarun Kade, Stefan Pucher, Camille Tricaud