Kammerspiele Melancholia von Lars von Trier
Die Erzählung eines Films
Kaum eine Vorstellung ist prickelnder, als die vom Weltuntergang, wenn er denn gewiss ist. Das ist der Augenblick, in dem die wichtigen Fragen aufkommen, nämlich, welchen Sinn das Ganze gehabt hat? Die religiösen (theistischen) Zeitgenossen fragen sich, warum der Schöpfer nicht eingreift oder ob es ihn am Ende doch nicht gibt? Vielleicht wird gerade dieses Kicks wegen, es bringt immerhin Bewegung in die graue (Hirn-)Masse, von irgendwelchen Wirrköpfen regelmäßig der Weltuntergang prophezeit oder ausgerufen. Dass er kommt, ist gewiss, denn irgendwann, wir reden von Milliarden Jahren, wird das Universum entweder mit dem Big Crunch, mit dem Big Whimper oder mit dem Big Rip enden. (Ich persönlich präferiere den Big Crunch.) Was aber, wenn die Erde vorzeitig durch eine kosmische Katastrophe ausgelöscht wird? Regisseur Lars von Trier entwarf so ein Szenarium. Darin traf der Planet Melancholia auf die Erde und zermalmte sie. Wenig glaubhaft, angesichts unserer sehr begrenzten Möglichkeiten, in die Zukunft zu schauen, aber durchaus möglich.
Es ging Lars von Trier in seinem grandiosen Filmwerk nicht vordergründig um die Zerstörung des Planeten, sondern um die Wertigkeit der irdischen Zivilisation. Und da fällt sein Urteil nicht besonders optimistisch aus. Immerhin hat ein russischer Mathematiker (Er starb für sein pessimistisches Orakel in einem stalinistischen Gulag.) bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts mittels der Wahrscheinlichkeitsrechnung die These aufgestellt, dass das Verhältnis der zivilisatorischen Selbstausrottung zu einer Ausrottung durch äußere Einflüsse 96 zu 3 steht. Weniger als ein Prozent beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass die Zivilisation eines natürlichen Todes stirbt. Stephen Hawking war sich der Selbstausrottung gleichfalls absolut sicher, gab uns aber immerhin noch ca. 1.000 Jahre. Angesichts dieser Aussichten könnte man sich Lars von Trier getrost anschließen, wenn er wissen lässt: „Die Erde ist schlecht. Wir brauchen nicht um sie trauern. Niemand wird sie vermissen.“
In seinem Film gibt es eine Kassandra, eine Frau, die in der Zukunft keinen Sinn mehr zu erkennen vermag. Ihr Name ist Justine (Kirsten Dunst) und die Geschichte beginnt am Tag ihrer Hochzeit, die finanziell sehr großzügig von ihrer Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg) und ihrem Schwager John (Kiefer Sutherland) organisiert wurde. Doch Justine wirkt abwesend und widerstrebend, verweigert sich den protokollarischen Abläufen, und irrlichtert durch die Feier, als hätte sie mit all dem nichts zu tun. Ihr Chef Jack (Stellan Skarsgård), Betreiber einer Werbeagentur, befördert sie zum Art Director und setzt seinen Neffen, frisch gekürter und nur wenige Stunden später wieder gefeuerter Mitarbeiter, auf Justine an, um ihr den Slogan für die aktuelle Kampagne zu entlocken. Justine zwingt den jungen Mann auf dem Golfplatz zum Sex und erklärt ihrem Chef bei einer Zwiebelsuppe dessen eigene Erbärmlichkeit und ihren Abscheu gegen ihn und die Firma. Noch in der Hochzeitsnacht muss der frisch gebackene Ehemann Michael (Alexander Skarsgård) erkennen, dass die Vermählung mit Justine ein fataler Fehler war und er zieht als guter Verlierer von dannen. Alles scheint sie mit Abscheu zu erfüllen, außer ihr kleiner, unschuldiger Neffen Leo, der sie „Tante Stahlbrecher“ nennt. Indes zeigt sich am Horizont ein Himmelskörper der an Leuchtkraft stetig zunimmt. Es ist der Planet Melancholia, der das Schicksal der Erde besiegeln soll. Justine sieht dem Augenblick geradezu gelassen entgegen, denn für sie ist der Untergang gewiss, während Claire immer noch auf einen Irrtum der Wissenschaftler hofft und als die böse Ahnung für sie zur Gewissheit wird, ist sie ohnmächtig mit der Situation umzugehen.
Justine ist ihr dabei keine Hilfe. Ihre Aussagen sind zutiefst desillusionierend. Nicht nur, dass sie die Erde als schlecht apostrophiert (Siehe Zitat oben.), sie stellt zugleich in Aussicht, dass alles Leben im Universum verlöschen wird: „Leben gibt es nur auf der Erde. Nicht mehr sehr lange.“ Sie weiß das, so, wie sie als einzige wusste, dass sich beim Hochzeitsgewinnspiel 678 Bohnen in einer Flasche befanden. Niemand hatte die Zahl erraten können. Justine wusste sie. Es ist ein magischer Moment im Film, wenn Claire die Schwester um Beistand bittet: „Ich möchte, dass wir zusammen sind, wenn es passiert. Vielleicht draußen auf der Terrasse. Hilf mir, Justine. Ich möchte alles richtig machen.“ Doch Justine ist erfüllt von Nüchternheit: „Dann sieh zu, dass es schnell geht.“ Und Claire: „Vielleicht trinken wir ein Glas Wein zusammen.“ Justine hat, wenn überhaupt, nur Mitgefühl für den kleinen Leo, nicht aber für die verängstigte Schwester: „Vielleicht noch ein Lied? … Beethovens Neunte. Irgendwas in der Art? Vielleicht zünden wir noch ein paar Kerzen an. (…) Weißt du, was ich von deinem Plan halte? (…) Ich finde ihn ziemlich beschissen.“ Und dann schlägt der Planet ein und beendet das Elend.
Eva Löbau, Julia Riedler, Gro Swantje Kohlhof © Armin Smailovic |
Lars von Trier stellt die wohl wichtigste Frage seit Anbeginn der Menschheit: „Sind wir allein im Universum?“ Er beantwortet sie selbstbewusst mit Ja. Und er unterstreicht die Endgültigkeit mit den denkbar gewaltigsten Bildern unter Zuhilfenahme von musikalischen Auszügen aus Wagners „Tristan und Isolde“. Die Kongenialität Wagners und von Triers sind unübersehbar, was allerdings nicht bedeutet, dass man beiden das letzte Wort lassen sollte. Eduard Hanslick nannte Wagner einen maßlosen Selbstvergötterer und einen ästhetischen Terroristen. Nietzsche wusste von viel „blauer Musik“ in Wagners Werk zu berichten und stellte fest: „Wagner kennt die opiatischen und narkotischen Wirkungen.“ Lars von Trier auch, und seine Bilder vom heranrasenden, blau strahlenden Planeten und seine verführerischen Dramaturgien sind von derselben Maßlosigkeit wie Wagners Musik. Solange man sich nicht das Hirn vernebeln lässt, bleiben es beachtliche Kunstwerke.
Felix Rothenhäusler brachte diese Geschichte nun auf die Bühne der Münchner Kammerspiele und stiftete einige Verwirrung, insbesondere bei denen, die den Film kannten. Das Publikum erlebte eine beinahe komplette Erzählung des Films durch fünf Darsteller, die von Christian Naujoks livemusikalisch begleitet wurden. Diese Begleitung bestand vornehmlich in der Erzeugung eines unterschwelligen fernen Grollens, ausgelöst durch die anschwellende Bedrohung durch den heranrasenden Planeten. In Wirklichkeit würde das geräuschlos passieren, denn Schallwellen brauchen ein Medium, um sich fortpflanzen zu können. Aber wenn Wagner schon zu Wort kommt, dann soll nicht gespart werden mit Illusionen. Die Bühne von Katharina Pia Schütz war lediglich mit ins Publikum gerichteten Scheinwerfern bestückt, die, mal heller, mal dunkler, den herannahenden strahlenden Planeten verdeutlichten.
Gut zwei Stunden dauerte die Erzählung des Films, ähnlich lang wie der Film selbst, und beschrieben wurden neben den Dialogen die Bilder, die in Lars von Triers cineastischem Werk aufschienen. Natürlich waren die Beschreibungen oder Erwähnungen der Bilder und Vorgänge weit weniger eindrucksvoll und vermutlich war es für den Zuschauer, der das Filmwerk nicht kannte, nicht immer ganz einfach, der Handlung oder den Momenten der Befindlichkeit der Protagonisten zu folgen. Insofern wurden die zwei Stunden sehr lang und quälend, zumal man über weite Strecken nicht wirklich wusste, worauf es hinauslaufen sollte. In solchen Fälle ist es wie immer ratsam, das Programmheft (In diesem Fall entspricht es beinahe einer Bedienungsanleitung.) zu konsultieren.
Darin findet sich folgende Passage: „Felix Rothenhäuslers Inszenierung zoomt nah ran an diese Individuen, die einen Umgang mit dem Ende suchen. Die gegen die Leere ihre Vorstellung der Realität behaupten. Die darum kämpfen, eine Welt entstehen zu lassen, die schon verloren geglaubt ist. Und darin die Möglichkeit der Veränderung aufscheinen lassen.“ Das klingt bedeutsam und klug und läuft darauf hinaus, dass den Figuren eine, und das ist neu, „Potentialität“ zugestanden wird. Ausgangspunkt dieser Art Theater ist eine Theorie von Gilles Deleuze, die die „Substraktion der Machtelemente des Theaters“ fordert, und so „eine neue Potentialität des Theaters“ schafft. Es entsprießt daraus eine „Variabilität“, die aus einem „zutiefst innewohnenden schöpferischen Vermögen“ der Sprache resultiert. Wenn von dieser Sprache „minoritärer Gebrauch“ gemacht wird, entsteht eine „nicht-repräsentative Kraft, die immer im Ungleichgewicht sein wird“.
Verstanden? „Es geht, allgemeiner formuliert, in jedem Fall um den a-signifikanten Gebrauch der Sprache.“ In der Praxis bedeutet das, dass der Zuschauer eigentlich keine Vorstellung davon bekommt, worum es eigentlich geht in der Inszenierung, weil Sprache und Gestus keine Einheit mehr bilden („Semantik und Semiotik sind nicht ganz versöhnbar“). Nikolaus Müller-Schöll, der in seinem Aufsatz „Im sprachlichen Medium“ das Theater von Felix Rothenhäusler erklärt, empfiehlt: „Man tut deshalb gut daran, sie zunächst einmal mit gleichschwebender Aufmerksamkeit einfach zu beschreiben, um später, vielleicht, mehr darüber sagen zu können, was man da eigentlich gesehen, was beschrieben hat und zu welchem Schluss darüber man gekommen ist.“
Tja, das hätte man vorher wissen oder zumindest ahnen müssen. Das bedeutet immerhin, dass eine gültige Rezeption zeitgleich kaum möglich ist. Und ob sich dann nach einiger Zeit noch etwas an Erkenntnissen einstellt, ist nicht gewiss. Wem oder Was gilt dann der Applaus am Ende des Abends, wenn man die Botschaft nicht kennt und darum auch nicht einschätzen kann, ob die Darsteller, nach der „Substraktion ihre Machtelemente“, man könnte es auch Handwerk nennen, ihre Rolle, nicht die Figurenrolle, sondern ihre Rolle in der Inszenierung, im Sinne des Kunstwerks gut oder gar bravourös bewältigt haben.
Ist es tatsächlich Vergangenheit und perdu, dass sich ein gutes Kunstwerk selbst erklärt hat, und zwar den Betrachtern aus allen gesellschaftlichen und Bildungsschichten? Natürlich darf Kunst nicht angepasst sein und sie sollte den Betrachter auch immer herausfordern, doch wenn ein Studium der Theaterwissenschaften und der neuesten Theorien nötig ist, um auch nur ansatzweise zu verstehen, worum es eigentlich geht, wird es problematisch. In dieser Inszenierung ist zudem noch weit problematischer, dass es kein Entrinnen gibt in dieser Geschichte. Um aus dem Einschlag des Planeten Melancholia auf der Erde eine taugliche Metapher vom möglichen aber abwendbaren Untergang unseres Planeten zu machen, müsste man den Film von Lars von Trier vergessen machen oder auslöschen können. Das wird der Inszenierung von Felix Rothenhäusler nicht gelingen. Sie ist und bleibt die Erzählung eben dieses Films, unspektakulär, langatmig und kryptisch.
Wolf Banitzki
Melancholia
von Lars von Trier
Mit: Majd Feddah, Thomas Hauser, Gro Swantje Kohlhof, Eva Löbau, Julia Riedler Live-Musik: Christian Naujoks Inszenierung: Felix Rothenhäusler |