Kammerspiele König Lear  von William Shakespeare


 

Eine Lücke tut sich auf

König Lear ist in die Jahre gekommen und hat beschlossen, ehe sein Geist zu degenerieren beginnt, den Staffelstab, sprich Macht und Besitz, weiterzugeben an seine drei Töchter. Und weil er so uneitel nicht ist, verlangt Lear von den Töchtern die Liebesprobe, im Wortlaut: Wer liebt mich am meisten? Nach dem Maß der ihm verbal entgegengebrachten Liebe, soll sich das Maß an verteiltem Reichtum richten. Die Töchter Goneril und Regan überbieten sich in Liebesschwüren, Tochter Cordelia indes ist nicht fähig zu derart übertriebenen Lippenbekenntnissen: „Ich lieb Eur Hoheit, wie´s meine Pflicht geziemt, nicht mehr nicht minder.“ Tief getroffen von der „Lieblosigkeit“ Cordelias enterbt der Vater sie und verheiratet sie mit dem französischen König, der um ihre Hand angehalten hatte. Das Reich wird zweigeteilt.

Lear hat nun de facto seine Macht abgegeben, hält aber immer noch Hofstaat wie ein amtierender König, was die Kassen und die Geduld der beiden Schwestern schwer prüft. Als die Schwestern ihre Forderungen aufmachen, ist Lear entsetzt und enttäuscht und zieht (nach einem symbolschwangeren Gewitter) fortan verwirrt als Bettler durch die Lande, begleitet von seinem Narren, hinter dem sich der einstige Getreue, der Graf Kent verbirgt, den Lear im Zorn ebenfalls verstoßen hatte. Parallel läuft eine Intrige zwischen Edmund, unehelicher Sohn des Grafen Gloucester und Edgar, ehelicher Sohn desselben. Edmund, ausgestattet mit den Eigenschaften eines Tyrannen, strebt ebenfalls zur Macht und sucht dabei auch die beiden Schwestern zu überwinden.

Edgar, verleumdet und auf der Flucht, trifft auf den umherirrenden Lear. Gloucester beauftragt Edgar, den er nicht als seinen Sohn erkennt, weil dieser sich verrückt stellt, Lear zu Cordelia zu begleiten, die mit französischen Truppen in Dover gelandet ist. Gloucester wird für diesen Verrat geblendet und trifft ebenfalls auf Lear. Ein Blinder und ein Verrückter müssen erkennen, dass sie ihre Kinder verkannt haben. Das französische Heer wird geschlagen und der Rest ist ein echtes Shakespearesches Blutbad …

Während Shakespeare den exemplarischen Fall eines alten Mannes als Psychogramm erzählt, der mit seiner Eitelkeit, seinem Jähzorn und seinem Eigensinn eine ganze Familie zerstört und ein Land an den Rand des Abgrunds bringt, brachte Stefan Pucher ein Epochendrama auf die Bühne, das weit über das Shakespearesche Moralstück hinaus ging. Dabei leistete Thomas Melle mit seiner Neuübersetzung und Bearbeitung enorme Schützenhilfe. Beide, Pucher und Melle, hinterfragten die gesellschaftlichen Mechanismen, die seit Jahrtausenden immer und immer wieder nach demselben Muster ablaufen, auf ihre Gesetzmäßigkeit. Bei Melle liest sich das so: „Und zu Ende das alte Einerlei, / und das Schlichte, Blöde, edle Schwarzweiß, /ist schlichtweg nicht mehr der heißeste Scheiß.“

  Knig Lear KS  
 

v.l.n.r.: Thomas Schmauser, Julia Windischbauer, Gro Swantje Kohlhof, Samouil Stoyanov

© Arno Declair

 

Bei Melle und Pucher sind die Schwestern nicht nur die intriganten Erbschleicherinnen und Cordelia nicht nur das moralische Glühwürmchen in der Finsternis aus Gier und Habsucht. Auch Lear ist nicht nur der von den Töchtern enttäuschte Vater, der im Angesicht der Wahrheit den Verstand verliert. Bei Melle und Pucher werden die Figuren um einige Facetten ambivalenter. Die Schwestern sind fraglos Erbschleicherinnen, doch haben sie durchaus einen Anspruch auf das, was ihnen gegeben wurde, denn Lear hat freiwillig und mit besten Vorsätzen abgedankt. Und die Frage, sich dieses tyrannischen Mutanten zu entledigen, auf welche Weise auch immer, erscheint gar nicht mehr so frevelhaft. Edmund, der Bastard, von der Erbfolge ausgeschlossen, hat selbstredend dasselbe Recht wie sein Bruder, allein, vor ihm türmt sich eine Blutschranke auf. Also nutzt er seine Intelligenz und dieselben Mittel wie die Oberschicht, um an die Macht zu gelangen. In einer Welt von Metzgern kann es keine Hierarchie geben.

Entscheidend für Melle und Pucher sind die Fragen: Müssen die Immergleichen die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen? Oder bedarf es nicht eines radikalen Umsturzes, der nicht durch moralische Skrupel verwässert werden darf? Und was wird das Ergebnis sein, wird die Welt „besser, schlechter oder einfach anders?“ Soviel war indes sicher, „am Ende wird sich eine Lücke auftun“. Wer oder was wird sie füllen? Es war ein extrem radikaler Umgang mit der literarischen Vorlage, den Melle vollzog, aber durchaus zeitgemäß, denn genau diese Fragen drängen sich auf. Dass darauf keine Antworten gegeben wurden, gegeben werden konnten, liegt auf der Hand, allein, es ist schon ein echter Fortschritt, die richtigen Fragen zu stellen. Bislang wurden immer die Fragen gestellt, für die wir die moderaten und beschwichtigenden Antworten parat haben, bringen sie uns doch nicht in Bedrängnis. Hier wird die Systemfrage gestellt, eine längst überfällige. Und das erschreckt und macht Angst, denn neben den Antworten, die wir nicht kennen, gibt es ein paar Ahnungen bezüglich der Konsequenzen, und die werden schmerzhaft sein.

Stefan Pucher psychologisierte nicht, er kleckerte nicht mit Tortenguss, er knallte dem Publikum den Lear kraftvoll um die Ohren und wer hätte ihm dabei bessere Dienste leisten können als Thomas Schmauser. Zuletzt sah man Schmauser in den Kammerspielen in der „Lear“-Inszenierung von Johan Simons, die man getrost mit „Lear auf dem Bauernhof“ umschreiben könnte und die dem einen oder anderen Zuschauer wegen des Gestanks der lebenden Schweine auf der Bühne im Gedächtnis geblieben ist. Schmauser spielte darin den Narren und es war ihm anzusehen, dass er sehr unglücklich in dieser Rolle war. Das versteht man heute umso besser, wenn man ihn in der Titelrolle erlebt. In seiner Darstellung spiegelten sich alle denkbaren und auch undenkbaren Facetten des Menschen, des Vaters, des Königs und des Wahnsinnigen. Melle versorgte ihn mit Texten, die dem Theater des Absurden hätten entsprungen sein können oder sogar der Denke von Dada.

An seiner Seite Samouil Stoyanov als Graf Kent und als Narr. Als letzterer lief er, auch angestachelt durch Schmausers Feuerwerk, zu großer Form auf. Als Narr erzählte er sogar einige Witze, etwas, was im elisabethanischen Theater gang und gäbe war, worauf man heutigen tags gemeinhin leider verzichtete. Wiebke Puls gab die Gräfin von Gloucester als rationalen Gegenpol zum fortschreitenden Wahnsinn Lears, obgleich auch sie sich hatte verblenden lassen und ihren Sohn Edgar verstoßen hatte. Diesen Sohn Edgar gab Christian Löber, anfangs jungenhaft mit kurzen Hosen als verängstigtes Kind, später dann als „Major Tom“, der soweit aus der Welt gefallen war, dass er sich im Orbit wiederfand. Diese Idee korrespondierte kongenial mit dem spacigen Bühnenbild von Nina Peller, dessen Hintergrund einen bedrohlich roten Wolkenhimmel zeigte und dessen Vordergrund im zweiten Teil aus einem intergalaktischen Bild mit Spiralnebel, Planeten, Sternen und schwarzen Löchern bestand.

Als Gebäude gab es einen drehbaren Bungalow, ähnlich einem kalifornischen Diner, auf dessen Dach in Leuchtschrift „The End“ prangte. Darin hatten die beiden Schwestern Goneril, Julia Windischbauer, und Regan, Gro Swantje Kohlhof, ihre Residenzen. Beide waren sich sehr ähnlich in Haltung und Spielweise, immerhin waren sie im Geiste, auch als Widersacherinnen, Zwillinge. Jelena Kuljić gab die Cordelia nüchtern, trocken und bestimmt. Sie war so gar kein verhuschtes Hascherl. Tomas Hauser, er wurde zuletzt von Christian Löbers Edgar mit einem gewaltigen Kunststoffschwert perforiert, gab den Machtkämpfer aus der Unterschicht, und zwar kraftvoll und ambitioniert. Sein Coup hätte auch gelingen können. Aber zuletzt war die Todesrate dann doch so hoch, dass man über den Sinn eines gewaltsamen Umsturzes noch einmal nachdenken sollte.

Die Welt wird sich ändern, muss sich ändern, denn die existenziellen Bedrohungen wachsen und verlangen neue Lösungen. Dabei haben wir beispielsweise die atomare Bedrohung ziemlich aus den Augen verloren. Eine neue Runde der Aufrüstung hat, trotz der Möglichkeiten zum Overkill, bereits wieder begonnen. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir das Problem lösen, denn alte, geistesgestörte Potentaten sitzen zum Teil an den Knöpfen dieser Waffen. Immerhin würde sich das Problem mit dem Klimawandel in einer strahlenden Zukunft erübrigen. Mag sein, dass sich unblutige Wegen finden lassen, die Hoffnung hält sich angesichts der Menschheitsgeschichte in Grenzen und der Typus Lear hat, obwohl Shakespeare vor nunmehr vierhundert Jahren das Thema anschnitt, immer noch nicht wirklich abgedankt.

Dass die absolut sehenswerte und unterhaltsame Inszenierung dem Publikum keine Antworten aufgedrängt hat, soll als Vorzug gelten. Wir sollten nämlich nicht über Dinge reden, über die man nichts tatsächlich Gesichertes weiß. Shakespeare tat das auch nicht und Georg Hensel wertete das wie folgt: „Shakespeare ist der Dichter, der es nicht so genau weiß: darin liegt seine Größe, seine Überlegenheit über alle, die es genau zu wissen glauben, und darin liegt seine Unsterblichkeit.“ Unsterblichkeit? Naja, … die ist niemandem beschieden angesichts der Zukunftsprognosen.

Wolf Banitzki

 


König Lear

von William Shakespeare
Übersetzt und bearbeitet von Thomas Melle

Mit: Thomas Hauser, Gro Swantje Kohlhof, Jelena Kuljić, Christian Löber, Wiebke Puls, Thomas Schmauser, Anna Seidel, Samouil Stoyanov, Julia Windischbauer

Inszenierung: Stefan Pucher

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