Kammerspiele Hiob nach Joseph Roth
Osterfest. Die kleine jüdische Gemeinde in New York erwartet den Messias. Herein tritt Menuchim. Der Kretin aus dem russischen Schtetl Zuchnow, jetzt aufrecht, charismatisch, ein berühmter Komponist und Dirigent sucht Deborah, die Frau von Mendel Singer. Sie ist inzwischen vor Gram gestorben. Also schließt der junge Mann, dem die Welt zu gehören scheint, den Vater in die Arme. Der erwacht aus seinem alttestamentarischen Kummer und sieht sich dem Glück erbarmungslos ausgeliefert, ebenso wie der Leser des Romans oder der Zuschauer in den Münchner Kammerspielen. Ein Kloß blähte sich im Hals und als der Vorhang fiel, konnte man sich, wie es schien, nur mit frenetischem Applaus von ihm erlösen.
Der Plot erinnert an schlechte Hollywoodfilme der 50er Jahre. Man möchte ihn dreist nennen, wenn, ja, wenn er nicht so wunderbar funktionieren würde. Dass er funktioniert, macht ihn literarisch nicht besser. Es ist die Vorgeschichte, die ihn (scheinbar) legitimiert.
Hildegard Schmahl, André Jung © Andreas Pohlmann |
Mendel Singer ist ein Jude, der in Treue zu seinem Glauben und zu seinem Gott leben möchte. Im Roman wird er wie folgt charakterisiert: "Sein Schlaf war traumlos. Sein Gewissen war rein. Seine Seele war keusch." Er ist gerecht und seine Heimat ist die Religion, die er Kindern vermittelt. Wie Hiob wird auch Mendel Singer geprüft. Doch während im alten Testament die Prüfungen direkt von Gott kommen, wird Mendel den irdischen unterzogen. Die erste Prüfung heißt Menuchim; der Knabe ist sein jüngstes Kind und ein Krüppel. Schemarjah und Jonas sollen in die zaristische Armee gepresst werden. Jonas sieht sich als Soldat am Ziel seiner Wünsche. Schemarjah hingegen desertiert und flieht nach Amerika, wo er "erfolgreich" ist.
Auch dem ersten Hiob widerfuhr dieses Märchen: "Der Herr wendete das Geschick Ijobs, (…); und der Herr mehrte den Besitz Ijobs auf das Doppelte." Wenn das kein versöhnlicher Anfang ist! Er, Ijob, besaß 14.000 Schafe, 6.000 Kamele und 1000 Joch Rinder und 1000 Esel. … Auch bekam er sieben Söhne und drei Töchter, wegen des Erbes, wie sich denken lässt, und lebte danach noch 140 Jahre - vermutlich, um den Besitz genießen zu können. Und wenn das kein Happy End ist! Also, Ihr lieben Menschen, seid nur fest im Glauben und ihr werdet die Wunder erleben. Wenn nicht, habt ihr halt was falsch gemacht.
Worum ging es nun wirklich in der von Johan Simons besorgten Bühneninszenierung? Wenn nach dem Genuss eines Theaterabends zu viele Fragen offen bleiben, insbesondere die eine: Warum?, folgt reflexartig der Griff zum Programmheft. Darin ist viel von Joseph Roth die Rede und wenig über das: Warum? Bleibt nur, zu spekulieren. Joseph Roth, der sich nach dem 1. Weltkrieg und dem damit verbundenen Niedergang Österreichs an der Schwelle einer Zeitenwende wähnte, stellte in "Hiob" die Frage nach Tradition und Moderne. Dass die "Neue Welt" unaufhaltsam kam, war Roth bewusst. Seine Frage zielte auf die geistigen Grundlagen, auf denen diese Welt existieren konnte. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre glaubte Roth die Antwort gefunden zu haben. In der multikulturell empfundenen Welt Südfrankreichs, aus der er für die Leser der "Frankfurter Zeitung" berichtete, entdeckte er Züge seiner galizisch-jüdischen Kindheit wieder. Daraus folgerte er: (…) "Ich (repräsentiere) keinen Typus, keine Gattung, kein Geschlecht, keine Nation, keinen Stamm, keine Rasse (sondern nur) mich selbst". Das einstmals kollektive Bewusstsein, gebündelt in sozialem und religiösem Dasein, wurde jetzt zum individuellen. Im Roman vermochte ausschließlich Menuchim, der durch tiefstes, unmenschliches Leid zum genialen Musiker gewandelte Krüppel, auf die beschriebene Weise zu sich selbst zu finden. Koen Tachelet, Dramaturg dieser Inszenierung, sieht in der Figur Menuchim Roths Utopie. Er ist das Modell für den "neuen europäischen Menschen: jemand der die moderne Welt bejaht, ohne sich seiner geistigen Wurzeln zu entledigen."
Bühnenbildner Bert Neumann hatte den Singerschen Kosmos in einem Kinderkarussell eingefangen. Hier befand sich die elende Küche in Zuchnow und die Suite des Astor-Hotels in New York. Wenn es sich bewegte, verging die Zeit. Zwischen Geburt und Tod war die Liebe plakatiert, ein frommer Wunsch für diesen Weltenentwurf. André Jung erspielte einen Mendel, der nicht selten eine Karikatur seiner selbst zu sein schien. Immer wieder taumelte er zwischen Unentschlossenheit, die auch schon mal in Feigheit ausartete, und verbohrtem Festhalten an Traditionen hin und her. Jung schuf eine fast clowneske Figur, deren Komik im Selbstverweis auf seine eigene Unzulänglichkeit bestand. Mit dieser eigenen Unzulänglichkeit rechtfertigte er das Elend, das ihm widerfuhr. Und da es ein großes Elend war, hatte er nicht selten fatalistische Züge.
Leider fehlte dieser Inszenierung die Präzision, wie man sie in "Elementarteilchen" oder "Prinz Friedrich von Homburg", beides Inszenierungen von der Hand Johan Simons, erleben konnte. So wurde viel gestammelt, geschrieen, genörgelt und vieles von dem ging in Unkenntlichkeit unter. Es wurde häufig an den Vorhängen des Karussells genestelt, ohne das deutlich wurde warum. Die Darsteller betraten die Szene und verließen sie, ohne in die Handlung eingegriffen zu haben. Die Rollenwechsel erschienen gelegentlich so lässig, dass Übergänge schwer nachvollziehbar wurden. Es herrschte wenig Klarheit, außer, wenn Hildegard Schmahl auftrat. Als Ehefrau Deborah war sie der Gegenentwurf zu Jungs Mendel. Sie hielt sich nicht mit religiösen Glaubenssätzen auf und schritt zur Tat, wenn es notwendig war. Die Klarheit ihres pragmatischen Handelns steigerte die Komik Mendels zusätzlich, führte seine Haltung nicht selten ad absurdum. Edmund Telgenkämper und Steven Scharf als Schemarjah und Jonas überzeugten durch wuchtige Präsenz. In der Bühnenfassung war ihnen ohnehin kaum mehr zugestanden als Katalysatorenfunktion. Ebenso begrenzt waren die Möglichkeiten von Wiebke Puls als die "alle Männer liebende" Schwester Mirjam. Sie spielte direkt und ging bis an die Grenzen natürlicher Scham. Bemerkenswert war die physische Leistung von Sylvana Krappatsch. In der Figur des Menuchim verlieh sie geistigem und körperlichem Kretinismus glaubhaft Gestalt, ohne in billigen Realismus abzugleiten. In ihrem letzten Auftritt als berühmter Musiker erspielte sie eine Haltung, die den neuen Menschen, wenn er denn Gegenstand der Darstellung sein sollte, in keinem sehr menschlichen Licht erscheinen ließ. Unterkühlt und emotional beherrscht führte Sylvana Krappatsch den Vater Mendel ab in die luxuriöse Welt eines genialen Künstlerdaseins.
Es blieb ein billiges und wenig glaubhaftes Happy End, das dennoch einen Sturm der Begeisterung entfachte. Wie viel Hoffnungslosigkeit muss in der Welt sein, wenn ein so simpel gestrickter, lange voraussehbarer Plot so eine Wirkung entfalten kann. Da klingt es beinahe wie eine Entschuldigung, wenn Dramaturg Koen Tachelet darauf verweist, dass "mit dem Happy End im Roman Hiob für uns die Tragödie unserer eigenen neueren Geschichte erst beginnt". Es ist, als beschwöre man nachträglich den Reflex, der bei uns Deutschen ausgelöst wird, wenn das Wort Jude fällt. Er funktioniert schon beinahe so verlässlich wie der Pawlowsche und führt nicht selten zur Paralyse. Aber dieser Aspekt steht im 1930 erschienenen Roman nicht drin und wurde auch von der Bühne der Kammerspiele herab nicht explizit erzählt.
Joseph Roth, der an den Folgen seiner durchaus verständlichen Alkoholsucht starb, verschied in dem tiefen Bewusstsein, dass das Ende der Welt gekommen sei. Schon 1936 bemerkte er: "Der neuzeitliche Mensch hat gewissermaßen vergessen, dass er das sittliche Gesetz von Gott am Sinai bekommen hat."
Hiob
nach Joseph Roth
André Jung, Hildegard Schmahl, Sylvana Krappatsch, Wiebke Puls, Edmund Telgenkämper, Steven Scharf, Walter Hess Regie: Johan Simons |