Kammerspiele Mamma Medea von Tom Lanoye


 

 
Mamma Medea - ein verblüffend menschlicher Mythos

Es ist bestimmt die grauenvollste Geschichte der antiken Mythologie, die unfassbarste durch all die Jahrhunderte … Ist sie das wirklich? Grauenvoll ja, doch wohl nicht unfassbar, denn immerhin fand man gerade in der Woche zwischen dem ersten und zweiten Advent acht Kindsleichen in unserem so wohlgeordneten Land, getötet von den Müttern! Also lassen wir einmal das Unfassbare beiseite. Wäre es wirklich so unfassbar, würde es nicht fast täglich (Laut Statistik: durchschnittlich 244 im Jahr!) geschehen. Die Zeiten sind zu allen Zeiten die gleichen geblieben, wie ein Zitat von Pestalozzi aus dem 19. Jahrhundert beweist: "Kindermord! Träum ich oder wach ich? Ist sie möglich, die Tat? Geschieht sie? Geschieht das namenlose - nein, nicht das namenlose, das genannte, das in Wort gebrachte Verbrechen? Verhüll dein Antlitz, Jahrhundert! Beug dich nieder, Europa! Von deinen Richterstühlen erschallt die Antwort: Zu Tausenden werden meine Kinder von der Hand der Gebärenden erschlagen."

Die Geschichte der Kindermörderin Medea dürfte hinlänglich bekannt sein, denn Euripides Drama zum Thema wird häufig genug gespielt. Hinzu kommen zahllose Literaturadaptionen. Für diejenigen, welche die Geschichte dennoch nicht kennen, hier ein Kurzdurchlauf: Jason, griechischer Königssohn aus Jolkos, fordert sein Recht auf den Thron bei seinem Onkel Pelias ein, der ihn sich durch Putsch angeeignet hat. Dieser ist unter der Voraussetzung zum Thronwechsel bereit, dass Jason das Goldene Vlies beschafft. Es ist eine tödliche Falle für den jungen Nebenbuhler. So beginnt die Reise der Argonauten nach Kolchis, dem "Barbarenland". Medea, Priesterin und Königstochter, verliebt sich in Jason und ist ihm beim Diebstahl des goldenen Widderfells behilflich. Dabei verrät sie Staatsgeheimnisse und tötet Ihren Bruder. Jason macht sie, damit die Flucht gelingen kann, zu seiner Frau. Zurück in Jolkos bricht Pelias sein Versprechen. Medea nimmt Rache und Pelias stirbt durch die Hand der eigenen Töchter. Wieder auf der Flucht vor der rachsüchtigen Familie des Pelias finden beide Unterschlupf in Korinth bei König Kreon. Der hat eine schöne Tochter, Glauke oder auch Kreusa. Jason sucht eine Allianz mit Kreon, will dessen Tochter ehelichen, um seinen Sozialstatus zu verbessern. Er lässt Medea fallen, die auf Rache sinnt und schließlich Kreon, Glauke und ihre eigenen Kinder tötet, um Jason tödlich zu treffen. Dann flieht Medea nach Athen zu König Ägeus. Soweit die Geschichte unter Weglassung der Nebenfiguren.
 
   
 

Sandra Hüller, Steven Scharf, Sebastian Weber, Lasse Myhr

© Arno Declair

 

Jeder Versuch, die Geschichte Medeas neu zu erzählen, zielt immer auch darauf, dem scheinbar "namenlosen" einen Namen zu geben. Nicht so Tom Lanoye in seiner Fassung "Mamma Medea". Sein Themenspektrum ist wesentlich größer als die Frage nach dem "namenlosen". In einer wuchtigen archaischen Sprache, die verwandt scheint mit der eines Homers, erzählt er eine sehr heutige Geschichte. Er greift kaum ein in die überlieferte Handlung und schafft es dennoch, sie der Mythologie zu entreißen, in dem er mittels sprachlicher Ausstiege die Protagonisten zu heutigen Menschen macht. Alltagssprachliches, zum Teil sehr Banales findet menschlichen, allzumenschlichen Ausdruck.

Und weil Autor Lanoye im Text einer bestechenden Logik der Gefühle folgt, wirkte das ganze auf der Bühne überaus schlüssig und glaubhaft. Dabei tat es dem künstlerischen Anspruch keinen Abbruch, denn Regisseur Stephan Kimmig fand immer eine artifizielle Haltung oder szenische Umsetzung des heutigen Gefühls. Und es bedurfte einer Menge von Einfällen, der Vielschichtigkeit des Textes, der Vielzahl der gedanklichen Ansätze gerecht zu werden. So wurde das Thema "Fremdsein" oder "Entwurzelung" ebenso wirkungsvoll ausdiskutiert wie die "Selbstbefreiung", das "Frausein" der Medea oder der gesellschaftliche und zugleich geschäftliche Pragmatismus des Jason.

Sandra Hüller gestaltete eine quirlige Medea, deren Zorn nicht göttlich, deren Weiblichkeit nicht mythisch und deren Handlungen nicht der "Vorzeit" entlehnt waren. Sie agierte als Weib aus Fleisch und Blut, im Beginn sehnsuchtsvoll und auch kindlich, später enttäuscht und am Ende zu allem fähig in ihrer Verzweifelung. Steven Scharf dominierte die Szene als Jason. Selten konnte man einen so kraftvollen Anführer der Argonauten erleben wie in dieser Inszenierung. Der physisch große Schauspieler wuchtete Gewaltakte wie die Tötung des Apsyrtos, Medeas Bruder, ebenso eindrucksvoll und überzeugend wie die zärtlichen Momente. Dabei hinterließ er immer ein Quäntchen Zweifel an der Aufrichtigkeit des Jason. Nie wurde sein Spiel eindeutig, nie bloße Darstellung einer physischen Figur. Sebastian Weber als Telamon/Fitnesstrainer und Lasse Myhr als Idas/Putzfrau kam die Aufgabe zu, die menschlichen Aspekte einzufordern. Sie spielten Opportunismus, auch Feigheit, gesellschaftliche Konventionen und im entscheidenden Augenblick auch den Verrat. Die dabei entstandene Komik machte sie nie lächerlich, sondern glaubhaft. Hans Kremer darf im Reigen der exzellenten Darsteller nicht vergessen werden. Als Aietes, Vater von Medea, gestaltete er, der alles verlor durch die Handlungen Medeas, das archaische, mythische Element und gemahnte den Zuschauer daran, dass hier eine über die Zeiten hinaus gehende Geschichte gespielt wurde.

Die Ausstattung des Stückes beförderte das Konzept der Regie. Katja Haß hatte eine Drehbühne geschaffen, die mit Teilen von Wänden bestückt war. Nur selten bot sich dem Zuschauer ein gleich bleibendes Bild, da die Bühne fast immer in Bewegung war, die fortwährende Flucht von Medea und Jason versinnbildlichend. Anja Rabes hatte die Darsteller in Anzüge und Kleider gesteckt, die nicht ablenkten. So konzentrierte sich alles auf das Spiel, das bis weit ins letzte Drittel hinein voller Überraschungen war. Dann jedoch musste Sebastian Weber als Fitnesstrainer den Tod von Glauke und Kreon beschreiben. Er tat dies, indem er höchste seelische Not spielte und hier wurde es nicht nur langatmig, sondern leider auch ein wenig peinlich. Die Kargheit der Gestaltung, der epische Ansatz der Darstellung kippte. Schade, zumal diese Szene so überflüssig war wie ein Kropf. Schade war auch das Ende des Stückes, dass durchaus überraschend ist, aber dann doch ein wenig kleinformatig ausfällt. Es soll keinesfalls verraten werden, denn diese Inszenierung ist unbedingt sehenswert und lebt von den Überraschungen. Das Premierenpublikum honorierte die Inszenierung und das Spiel der Darsteller mit einer Vielzahl von Bravos und nicht enden wollendem Applaus. Zu Recht! Diese Inszenierung wird im Gedächtnis der Zuschauer haften bleiben.


Wolf Banitzki

 

 

 


Mamma Medea

von Tom Lanoye

Sandra Hüller, Steven Scharf, Hans Kremer, Sebastian Weber, Lasse Myhr, Lena Lauzemis, Caroline Ebner, Jonas Schmid, Simon Kirsch, Kinder: Max Gicklhorn, Thomas Gicklhorn / Firmian Fischer, Leon Kitzbichler

Regie: Stephan Kimmig
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