Kammerspiele Familie Schroffenstein von Heinrich v. Kleist
Der Beginn der Arbeit an "Familie Schroffenstein" fiel in das Jahr 1800. Kleist war 23 Jahre alt und titelte seinen Erstling vorerst mit "Familie Ghonorez". Der Dichter, er hatte zuvor seine soldatische Laufbahn beendet und gerade sein Studium der Rechte geschmissen, stand ganz unter dem Einfluss von Jean-Jacques Rousseaus pädagogischem Roman "Emile oder über die Erziehung" sowie Schillers "Don Carlos, Infant von Spanien" und "Wallenstein". Er war ein Suchender, der humanistische Grundwerte mit den gesellschaftlichen Abläufen in Beziehung zu setzen versuchte und zu keinem guten Schluss kam. In seiner Ohnmacht entwarf er einen Dramenstoff, der Shakespearesche Ausmaße annahm und wie dieser in ähnlichen Stücken über das Tragödische nicht hinaus gelangte. Selbst eine Romeo und Julia Geschichte fand ihren Platz in einem Weltentwurf, der keine Hoffnung zulässt.
Am Anfang dieser Geschichte steht ein Erbvertrag der Familie Schroffenstein. Im geteilten Reich soll dem das gesamte Erbe zufallen, der den anderen überlebt. Als Ruperts Sohn Peter im Wald tot aufgefunden wird, beginnt das wahnhafte Treiben. Jeder unterstellt dem anderen das Streben nach alleinigem Besitz und alleiniger Herrschaft. Rachegelüste verhindern jegliche Kommunikation und im Strudel der Ereignisse, die scheinbar ihre Ursachen in wahnhaften Unterstellungen, Fehlinterpretation und eine durch Vorurteile verstellte Sicht haben, rotten die Geschlechter einander aus. Die sich liebenden Kinder werden schließlich durch die eigenen Väter gemeuchelt. Am Ende reichen sich diese zwar die Hände, doch leider in dem Bewusstsein, einander ausgelöscht zu haben. Die Geschlechter werden mit ihnen aufhören zu existieren. Es ist eine große Geschichte, die vielleicht die letzte Geschichte der Menschheit sein könnte. Es liegt wahrscheinlich in der Jugendlichkeit des Dichters, sich diesem kaum zu überbietenden Thema gestellt zu haben. Hierin ist möglicherweise auch begründet, dass die Geschichte für einen kurzen Zeitraum Anlass zur Hoffnung gibt, nämlich in der Liebe der Nachkommen.
Sebastian Weber, Oliver Mallison © Andreas Pohlmann |
So wenig wie Kleist einen anderen Ausweg aus dem ewig menschlichen Dilemma anbieten kann, so wenig bleibt ihm letztlich nur die Katharsis beim Betrachter. Aber wir leben in einer Zeit, in der Katharsis allein wegen ihrer emotionalen und auch intellektuellen Anstrengungen eher unerwünscht ist. Unterhaltsam soll es sein und kurzweilig. Wie übersteht man drei Stunden emotionale Folter dergestalt, dass einem danach noch das Glas Wein schmeckt? In dem man durch eine ästhetische Verklausulierung auf Abstand geht. Die ist Regisseur Roger Vontobel gelungen. In der Premiere hatten doch einige Zuschauer eine Menge zu lachen. Dabei war der konzeptionelle Ansatz durchaus geschickt und das Durchhalten dieses Konzeptes bis zum Schlussvorhang beweist die Intelligenz des Regisseurs und seine Fähigkeit, den Überblick nicht zu verlieren. Tatsächlich gelang ihm eine deutliche Steigerung bis zum Verlöschen allen Lebens.
Der Ansatz beruhte auf die Betonung des kindlichen Elements als Hoffnungsträger. Die unverstellte Sicht der Kinder, ihre vorbehaltlose Suche nach der Wahrheit ist im Stück enthalten und nahm auf der Bühne auch deutliche Gestalt an. Doch zu welchem Ende eigentlich, wo doch schon nach kürzester Zeit feststand, dass alles dem Untergang geweiht war. Sichtbarstes Zeichen der Bemühungen des Regisseurs, die Geschichte unterhaltsam zu erzählen, war die Konzentration auf die Sprache, der, so im Programmheft nachzulesen, ein ungeheurer Witz innewohnt. Nun, es ist wohl weniger ein Witz, wenn ein Dichter wie kaum ein anderer in der deutschen Literatur, die Semantik beherrscht und diese in der Vielgestaltigkeit zur Wahrheitsfindung und Entlarvung nutzt. Vielleicht ist es ketzerisch, doch an dieser Stelle soll behauptet werden, dass bei einer derartigen Betrachtungsweise der Dichter Kleist nicht der junge Weise ist, sondern der "Coole". Die "Coolness" seiner Sprachgestaltung benutzte Vontobel, um seine Inszenierung aufzupeppen und das Publikum dankte ihm dafür. Aber Klarheit schafft das nicht und schon gar nicht neue Einsichten, die vermittels des dramatischen Entwurfes über diesen selbst hinausgehen. Hier versagte man.
Ästhetisch war die Inszenierung überzeugend. In einem groß angelegten Bühnenbild von Petra Winterer hatten beide Geschlechter Raum. Zwei riesige verschiebbare Wandschränke, durch deren Türen die Schauspieler auf- und abgehen konnten, verschlossen die Bühne und öffneten sie nach Bedarf. In Schlüsselszenen war das jeweils andere Geschlecht spiegelbildartig im Hintergrund präsent und psychologische Vorgänge drangen in die Tiefe des Raums auf die andere Seite des Denkens und Empfindens. Zwischendurch, wenn die Jugend ihr Weltbild entwarf, wurde das gleiche Bühnenbild als Puppenstube platziert und Spielfiguren traten an die Stelle der Menschen. Diese Vorgänge, per Video auf das eigentliche Bühnenbild projiziert, hatten einen starken visuellen Effekt, kamen aber nicht selten recht infantil daher. Die kindliche (und gelegentlich kindische) Sicht konnte nicht heilbringend wirken, aber sie rührte doch an und erheiterte auch.
Die darstellerischen Leistungen war unbestritten. Jochen Noch spielte einen vor Hass erblindetet Rupert. Sein Racheschwur war unerschütterlich, selbst in Momenten, in denen Jeronimus, sehr eloquent gestaltet von Paul Herwig, berechtigte Zweifel an der Schuld des Grafen Sylvester, vorbringen konnte. Wolfgang Pregler gestaltete seinerseits den Bruder des rachsüchtigen Schroffenstein vielschichtiger. Er schwankte zwischen Wahrheit und Wahn, hatte lichte Momente, und fiel dem Wahnsinn dann doch ebenso hingebungsvoll zum Opfer. Belebend, weil physisch agil und ungeheuer präsent, wirkte das Spiel der Darsteller der Kindergeneration. Sebastian Weber fiel dabei der wichtigste Part zu. Eingangs den Racheschwur leistend, wandelt er sich durch die Liebe zu Agnes (Tochter Sylvesters) zum Träger von Vernunft. Er vermittelte die Rolle als die eines in sich erstarkenden jungen Mannes, der Verantwortung entwickelt. Lena Lauzemis brachte ihre jugendliche Anmut so ungekünstelt ein, dass sich jedem Betrachter die Rolle der "Julia" aufdrängte. Die effektvollste Gestaltung im jugendlichen Reigen gelang Oliver Mallison. In der Rolle des Johann, Sohn Ruperts, formulierte er einen schlicht gestrickten Burschen, dessen Liebe zu Agnes ihn immer wieder sehr glaubhaft an den Rand des Skurrilen brachte.
Die Inszenierung ist unterhaltsam und sehenswert. Allein, dieses Herumpaddeln in den Untiefen der menschlichen Seele ist nur eine weitere opportunistische Variante in der doch recht kargen Inszenierunggeschichte dieses Stücks. Angesichts der Seltenheit der Aufführung von "Familie Schroffenstein" ist es auch eine verschenkte Chance, visionslos und systemimmanent. Dabei wäre es doch ganz einfach gewesen, denn: Am Anfang stand der Erbvertrag. Der Wahn ist nicht die Ursache des Übels. Er ist nur die Folge aus dem Erbvertrag. Hier hätte sich ein Ansatz finden lassen, mit welchem man dem Zuschauer eine Geschichte von Kleist hätte erzählen können und sie gleichsam zu unser aller Wohl hätte überwinden können, ohne sie zu verbiegen.
Familie Schroffenstein
von Heinrich v. Kleist
Jochen Noch, Annette Paulmann, Sebastian Weber, Oliver Mallison, Jochen Striebeck, Wolfgang Pregler, Carioline Ebner, Lena Lauzemis, Paul Herwig Regie: Roger Vontobel |