Kammerspiele Schatten von Jon Fosse


 

 

Mehr als nur ein Stück

Auf die Frage an Jon Fosse, ob das Stück ein Versuch über das Jenseits sei, antwortete dieser: "Nicht wirklich. Es ist nur ein Stück." Was der Autor "nur ein Stück" nennt, ist ein fein gesponnener Text aus gehauchten Reflexen, aus einfachstem Wort- und Satzmaterial, aus unendlichen, schwer auszuhaltenden Wiederholungen. Die Figuren sind keine menschlichen Wesen, dingfest zu machen über Charaktere und Spielgestus. Es sind Wesen aus einer vergangenen Welt, die doch zeitgleich weltlich und präsent sind. Würde man alle Jas und Neins im Text streichen und alle Wiederholungen weglassen, blieben wohl kaum mehr als eine Hand voll Seiten übrig, die zu spielen sinnlos wären.

Wie ist es dann zu verstehen, dass eine so grandiose Inszenierung herauskam, die an Becketts "Warten auf Godot" erinnert? Fosse ist, wie er selbst bekennt, ein intuitiver Schreiber. Diese Methode der Dichtung ist seit James Joyce unbestritten. Das Ganze funktioniert wie folgt: Ein Dichter hat einen Grundeinfall, weiß jedoch nicht, wie er zum Ziel gelangen soll und überlässt das Schreiben vornehmlich seinem Unterbewusstsein, das mindestens ebenso leistungsfähig ist wie das Bewusstsein. Am Ende steht allerdings ein Werk, das selbst für den Autor Mysterien birgt, die vom Dichter selbst, von dem Leser oder, wie hier geschehen, vom Regisseur entschlüsselt werden müssen. Das gelingt in der Regel nicht mit der ersten Inszenierung schlüssig. (Siehe auch die Inszenierungstradition von "Godot".) So ist es ein riskantes Unterfangen, denn sehr schnell kann ein wertvolles Stück ins Abseits und ins Vergessen geraten.
 
   
 

Hildegard Schmahl, Hans Kremer, Brigitte Hobmeier, Edmund Telgenkämper, Lena Lauzemis, Christoph Luser

© Andreas Pohlmann

 

Regisseur Laurent Chétouane leistete seinerseits außerordentliches, wenngleich die Inszenierung beim Publikum nicht unumstritten ist und sein wird. Er näherte sich dem Text, der weder über einen Erzählstrang, noch über deutliche Charaktere im Sinne von tradierten Rollen verfügt, auf ganz besondere Weise. Der Schauspieler, Darsteller von Haltungen und Eigenschaften, wird zum "Ort des Aussagens". Der Effekt ist verstörend, denn gestisches oder mimisches Spiel findet, wenn überhaupt, nur in kaum wahrnehmbaren Ansätzen statt. Eine Bewertung der schauspielerischen Leistung wäre also nicht nur fehl am Platz, sie ist schlichtweg unmöglich.


Was passiert auf der kargen Bühne, gestaltet von Marie Holzer und Laurent Chétouane, die eine Straße vorstellt, eingebunden in Leitplanken und geteilt durch erhöhte Mittelstreifen? Diese Straße ist kein wirklicher Ort, denn sie sprengt das Theater völlig, beginnt mit der Eingangstür in den Zuschauerraum und verliert sich im Dunkel des Bühnenhintergrundes. Sie ist die denkbar größte Metapher, das Leben an sich und darüber hinaus ebenso der Tod, der die ungehinderte Fortsetzung bildet.

Auf dieser Straße begegnen sich Menschen, die allesamt miteinander verbunden sind oder es zumindest waren. Der Vater (Hans Kremer), begegnet der Mutter (Hildegard Schmahl), also seiner Frau. Der Mann (Edmund Telgenkämper), ihr gemeinsamer Sohn, trifft das Mädchen (Lena Lauzemis), seine einstige Ehefrau und beide gemeinsam treffen seine Eltern. Der Freund des Mannes (Christoph Luser) taucht auf und eine weitere Frau (Brigitte Hobmeier) gesellt sich ihnen zu. Alle sind voller Verwunderung über den Ort, den sie zu kennen scheinen, sich aber nicht wirklich erinnern können. Ihr wieder erkennen gelangt über knappe Aussagen, dass man sich freue, etc. kaum hinaus. Es ist kein geselliger Ort und eigentlich möchten alle ihn wieder verlassen. Der Aufbruch geschieht jedoch nicht, es bleibt immer und immer nur bei der Ankündigung. Zwei Stunden tonloser Wiederholungen einfachster Aussagen, die nicht selten auf ein Ja oder Nein beschränkt sind, entfesseln keinerlei Aktion.

Schmerzlich ist es anzuschauen, ohne Frage, doch wer glaubt, hier werde ein Publikum gequält, fehlt weit. Fosse erzählt eine ganze Familiensaga, ohne darüber zu sprechen. Er spricht von Liebe und Verrat, von Weggang und Wiederkehr, von Leben in Sehnsüchten und dem Sterben der Sehnsüchte und ihrer Träger. Die Beziehungen der Figuren werden ganz langsam sichtbar, gestalten sich im Auge des Betrachters. Es ist ein verblüffender Vorgang, denn er kommt ohne Schauspiel und fast ohne Sprache aus. Dabei charakterisiert der Autor unterschiedlichste Menschenbilder unserer heutigen Gesellschaft ohne zu richten, ohne sich über sie zu erheben. Diese Wesen haben keine Namen, sind somit Archetypen der Moderne und in einem erschütternden Maße haltlos. Fosse bekennt, hier gibt es nicht einmal mehr einen Godot!

Diese hochartifizielle Inszenierung, die einem Ballett nicht unähnlich ist, leistet noch etwas, was man heutzutage nur selten zu sehen und vor allem zu hören bekommt. Sie spielt auf faszinierende Weise mit der Semantik der Wörter. Hier sein und da sein, verkehrt sich in der schlichten Wiederholung in hier Sein und Dasein. Die Frage nach dem Existenziellen bekommt plötzlich ein gewaltige Dimension und schwappt, wenn der Zuschauer es denn zulässt, auf ihn über.

Das außergewöhnliche Werk ist nicht nur ein erstaunlicher theatralischer Beitrag sondern auch ein sinnvoller philosophischer Exkurs mit gänzlich neuen Mitteln und vor allem neuen Argumenten. Fosse erhebt wieder einmal die Sprachlosigkeit zur ausdrucksstarken Sprache und entbanalisiert dabei verschlissenes Material. Hier bedarf es der Rückkehr zur Sensibilität für den einfachen Ton und seine Vieldeutigkeit, der im Geschrei der Welt versunken ist.

Das Publikum der Premiere war zutiefst gespalten. Wer unterhaltsames Theater erwartet, wird enttäuscht. Wer nicht bereit ist, seinen Teil zu leisten, damit das Stück im Auge des Betrachters wachsen kann, wird sich vielleicht sogar verhöhnt fühlen. Wer jedoch diese Strapazen auf sich nimmt, wird diesen Abend nicht vergessen.

Und wenn alle Beteuerungen über die Qualität des Abends nicht greifen, bleibt nur zu hoffen, dass es dem Stück und der Inszenierung so ergeht wie "Warten auf Godot". Roger Blin hatte das Drama am 5. Januar 1952 im Théâtre de Babylone zur Uraufführung gebracht. Das empörte Publikum empfahl allen Bekannten und Freunden, sich diese "Schweinerei" doch einmal anzuschauen. Fortan waren die Vorstellungen über Jahre ausverkauft.

 
Wolf Banitzki

 

 


Schatten

von Jon Fosse

Hans Kremer, Hildegard Schmahl, Edmund Telgenkämper, Christoph Luser, Lena Lauzemis, Brigitte Hobmeier

Regie: Laurent Chétouane
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