Kammerspiele Gift von Lot Vekemans


 

 

Resignation und/oder Neuanfang

Eine Untersuchung hatte ergeben, dass der Boden eines Friedhofs verseucht war. Die Angehörigen wurden davon in Kenntnis gesetzt, dass ein Umbettung geplant sei. Man hatte postalisch zu einem Lokaltermin geladen. Ein Paar findet sich ein, das sich zehn Jahre zuvor, einige Zeit nach dem Unfalltod des gemeinsamen Jungen, getrennt hatte. Sie haben sich in den vergangenen zehn – neun, verbessert er mehrfach – Jahren weder gesehen, noch haben sie Kontakt gehalten. So sind die Fragen von einst, die Fragen von heute. Warum hast du mich verlassen? Er war gegangen, weil er am 31. Dezember 1999 unmöglich das Glas erheben konnte auf das Neue Jahr. Der Tod des Kindes hat ihn innerlich zerfressen und auch die Liebe zu seiner Frau. Zehn Jahre danach ist in der Erinnerung noch immer alles gegenwärtig: Der Moment, als man die lebenserhaltenen Maßnahmen abstellte; die neun Minuten, die es dauerte, ehe das Herz zu schlagen aufhörte; der Anblick ihrer Lippen auf der Stirn des Kindes, als es starb; und die Tatsache, dass diese Lippen sangen.

Um weiterleben zu können, ist es notwendig, endlich ein Schlussstrich zu ziehen. Im Gegensatz zu ihm, dem es gelungen war, so gut es nur gehen konnte, seinen Frieden zu machen und weiter zu leben, durchlitt sie den Schmerz und die Verzweifelung tagtäglich aufs Neue. Er lebt, jetzt in Frankreich, wieder in einer Beziehung und seine neue Frau ist schwanger. Ihr ist es unverständlich, wie er diesen Schritt gehen konnte. In der kurzen Zeit, die beide an diesem verregneten Nahmittag miteinander verbringen, tasten sie sich rückwärt heran an die gemeinsame Vergangenheit und sind endlich in der Lage, gemeinsam zu trauern. Ein Zurück kann es nicht mehr geben. Doch eine Gemeinsamkeit in der Trauer wird endlich möglich und so halten sie einander und singen. Es war dasselbe Lied, das ihn einige Jahre zuvor errettetet hatte. Dieses Lied hatte ihm die Gelassenheit geschenkt, endlich zu akzeptieren, was geschehen war.

Das Drama von Lot Vekemans ist ein berührendes. In Zeiten von Soaps, in denen kein dramatischer Konflikt mehr gescheut wird, um Emotionen und Tränenflüsse zu provozieren, ragt das Werk der niederländischen Autorin heilsam heraus aus dem Nebel der Befindlichkeiten. Es ist ein ehrliches, ein aufrichtiges Werk, das auch Trost spenden kann, ohne zu verschleiern oder zu kleistern. Johan Simons erarbeitete die Uraufführungsfassung 2009 in Gent. Jetzt wurde sie in den Spielplan der Münchner Kammerspiele übernommen.
 
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Elsie de Brauw, Steven van Watermeulen

© Phile Deprez

 
 
Simons Arbeiten sind bekannt dafür, dass er tief lotet, ohne spektakulär oder marktschreierisch zu werden. So auch diese Arbeit, deren Bühnenbild von Leo de Nijs ein wenig an Simons Inszenierung von Heiner Müllers „Anatomie Titus Fall of Rome“ in den Münchner Kammerspielen erinnerte. Der Zuschauer sah sich einigen Sitzreihen gegenüber, einem Raum, in dem Menschen sich etwas anschauen oder in dem sie sich versammeln, um einem Redner zu lauschen. Im Stück füllten sich diese Reihen nicht. Aus gutem Grund, wie der Zuschauer schnell vermutete und bald als Gewissheit erfuhr.

Ein wenig behäbig ging es an, als Steven van Watermeulen auf der Bühne erschien und sich wunderte, dass er der Einzige blieb, obgleich der genannte Zeitpunkt des Zusammentreffens längst überschritten war. Er vergewisserte sich durch das erneute Lesen der Einladung von der Richtigkeit von Zeit und Ort. Seine Ungeduld wurde ihm sichtlich zur Qual. Schließlich erschien die Exfrau. Elsie de Brauw spielte sie vom ersten Augenblick an wie ein waidwundes Tier. Ihre mühevolle Selbstbeherrschung pendelte zwischen Zynismus und gerechten und ungerechten Vorwürfen gegen die Welt und ihren Exmann. Sie war getrieben von dem Wunsch, zu verstehen, und diese Umtriebigkeit hob schließlich die Behäbigkeit aus Schwellenangst und Sprachlosigkeit auf. Regisseur Simons hatte es verstanden, die Geschichte langsam und unaufhaltsam auf einen Höhepunkt zusteuern zu lassen, der unkalkulierbar schien, der in einer Katastrophe hätte enden können. Um so beglückender war es schließlich, eine Auflösung zu erleben, die glaubhaft und darüber hinaus berührend war.

Die Musik spielte in der inneren Bewältigung des (wohl schlimmstmöglichen) Traumas eine Schlüsselrolle. Um dem gerecht zu werden, ließ Regisseur Johan Simons den Sänger Steve Dugardin auftreten. Der lyrische Gesang hob das Geschehen auf eine höhere Ebene und ließ verstehen, warum der Mann in der Musik seinen Ausweg aus der Sackgasse des Lebens fand. Zugleich bereitete die Musik ein Ende vor, das allzu leicht als surreal oder doch wenigstens als kitschig hätte abgetan werden können. So aber wurde es überzeugend und versöhnlich, ohne zum Happy end zu werden, und heilkräftig in Zeiten der Orientierungslosigkeit.

„Gift“ ist eine leise und unaufwendige Inszenierung, die sich allemal gut dazu eignet, den vielfältigen Spielplan der Münchner Kammerspiele um eine sehenswerte Farbe reicher zu machen.

 
Wolf Banitzki

 

 

 


Gift

von Lot Vekemans

Elsie de Brauw, Steve Dugardin, Steven van Watermeulen

Regie: Johan Simons