Kammerspiele Atropa von Tom Lanoye
Plädoyer gegen Krieg und seine Macher
Atropos war die älteste Schwester der drei Schicksalsgöttinnen. Sie war die Zerstörerin, die den Schicksalsfaden, den die Schwester Klotho gesponnen und den die Schwester Lachesis bemessen hatte, durchtrennen musste. Das war ihre Aufgabe. Nun gab es in der Geschichte der Menschheit immer wieder Personen, die diese schicksalhafte Rolle für sich reklamierten. Es waren zumeist Menschen, die zu Narzissmus neigten, mittelmäßig oder sehr einseitig begabt und darum nicht in der Lage waren, sich durch besondere Fähigkeiten oder Fertigkeiten Anerkennung zu verschaffen. In diese Kategorie fallen beinahe alle Diktatoren und Potentaten. Diese Menschen haben allerdings alle eines gemein, den Willen zur Macht. Die mythische Figur des Agamemnon war ein solcher Mensch. Seine mangelnden intellektuellen Fähigkeiten ließ er sich durch Odysseus ersetzen, seine kriegerischen durch Helden wie Achilles. So konnte er letztlich als bedeutender Herrscher durch die Mythologie wandeln, denn so unersetzlich seine Eingeweideleser und Vollstrecker auch waren, die Entscheidungsgewalt gab er nie aus der Hand.
Dabei vereinte Agamemnon alle denkbaren Untugenden auf sich. Er war machtbesessen, gierig, eitel, skrupellos und gefühlskalt. So stellt sich seine Person zumindest in der Literatur dar, und nichts anderes ist die Mythologie. Doch mythologische Figuren haben ihren Ursprung in der Realität. Und sie sind literaturtauglich, solange sie ihre Entsprechung in der Realität finden. Wie grandios ist ein Werk, das beinahe dreitausend Jahre lang den Beweis erbringen kann, dass es wahrhaftig ist? Wie entsetzlich ist es hingegen, dass die Menschheit seit beinahe dreitausend Jahre Bescheid weiß (wissen kann) und sie nichts daraus lernt? Tom Lanoye erzählte die Geschichte des Agamemnon und seines trojanischen Krieges aus zwei Perspektiven, der des Kriegstreibers und der der Opfer. Er tut das auf so konsequente und intelligente Weise, dass wir den trojanischen Krieg getrost beiseite lassen und uns auf die aktuellen Kriege besinnen können. Traurig aber wahr, es gibt keinen Unterschied.
Tom Lanoye bedient sich einer Sprache, die an die großen Tragödiendichter (Aischylos, Sophokles und Euripides) erinnert. Er lässt die Schönheit der antiken Dramensprache auferstehen und schafft es gleichsam, den Zuschauer durch grandiose Brüche auf den Boden der (heutigen) Realität zurück zu bringen. Plötzlich hört man durch die Figur des Agamemnon alle Potentaten (zu denen auch die Oberhäupter vermeintlicher Demokratien gehören) der Neuzeit sprechen. Tagtäglich melden sie sich zu Worte und ihre Machtrhetorik stößt kaum mehr auf Widerspruch. Gleichsam bekommen durch die Klage Klytämnestras, Helenas, Hekabes, Andromaches und Kassandras die Opfer aller Kriege eine Stimme. Lanoye manipuliert nicht, er wählt nicht einmal manipulativ aus, sondern er gibt in entlarvender Weise wieder, was in der „Staatskunst“ zu tradierten Floskeln gerann, was seit Anbeginn die großen Verführungslügen sind. Wenn Politiker Metaphern benutzen, dann sind sie völlig ratlos. Wenn Politiker sich in die emotionale Begrifflichkeit des Schicksalhaften versteigen, dann ist Gefahr in Verzug. Tom Lanoyes dramatischer Entwurf ist ein grandioses Antikriegsstück, dessen Wahrheiten so einfach sind, dass man am erstaunten Lachen zu ersticken droht.
Stephan Kimmig brachte fast auf den Tag vor drei Jahren Lanoyes „Mamma Medea“ auf die Bühne der Münchner Kammerspiele. Bereits mit dieser Arbeit erbrachte er den Beweis, dass er sowohl mit Texten Lanoyes als auch mit den Themen der Antike hervorragend umgehen kann. Selbst die Entscheidung, Steven Scharf mit der Hauptrolle (Jason/Agamemnon) zu besetzen, zeugt von ausgezeichnetem Instinkt. Bühnenbildnerin Katja Haß, auch sie war am Erfolg von „Mamma Medea“ beteiligt, entwarf einen groben Bunkerbau, dessen weiße Tore wehrhaft wie genietete Stahlplatten wirkten. Einzig ein umlaufendes ornamentales Band erinnerte an das antike Griechenland. Das Spiel begann auf der Vorderbühne. Katja Bürkle gab eine erwartungsvolle Iphigenie, tanzte ausgelassen und angestrengt mit zwei Fahnen, als bereitete sie sich auf einem Wettkampf in sportlicher Gymnastik vor. Die Heirat mit Achilles stand ins Haus und ihr Überschäumen war Ausdruck der freudigen Erregung. Wiebke Puls trat als wissende Klytemnästra auf, vom ersten Augenblick an von einem mütterlichen Entsetzen gezeichnet, dass sie bis zum Ende des Dramas nicht mehr ablegte. Die Tochter sollte geopfert werden, damit der griechischen Flotte unter Agamemnon, Vater Iphigenies, endlich Wind beschieden sei. Steven Scharf, ein Darsteller, der aufgrund seiner physischen Erscheinung und seiner Stimmgewalt den zu groß geratenen, naiven Knaben ebenso geben kann wie den martialischen Bösewicht, verteidigte in der Rolle des Agamemnon die Unausweichlichkeit des Opfers. Er war an diesem Abend der Protagonist der Lüge und des Verrats, und er war großartig darin.
Der Grundtenor der Inszenierung war hochdramatisch und tragisch. Sämtliche Darsteller spielten mit enormem Einsatz und erhitzten das Thema bis zur Unerträglichkeit. Stephan Kimmig behandelte das Sujet blutig. Es wurde zwar kein Blut verspritzt, aber es trat anstelle der Kleidung von Mördern und Opfern. Kimmig gelang ein antikes Drama in modernstem Gewand. Walter Hess gab einen Namenlosen, der, wie der antike Chor, die Geschichte sprachgewaltig und eindringlich erzählte und kommentierte. Gundi Ellerts Hekabe und Katharina Hackhausens Andromache waren Monumente der Anklage, archetypische Opfer, und bei alledem sehr menschlich. Anna Maria Sturm gab eine Helena, der endlich einmal eine eigene Persönlichkeit zugestanden wurden. In den großen Tragödien war sie zumeist Spielball. Bei Lanoye/Kimmig wurde erstmals auffällig, dass es sich hier ebenfalls um eine menschliche Figur mit einem ureigenen Gefühlsspektrum und Anschauungen handelte.
Tom Lanoye wich in seinem Werk vom Mythos ab. Doch tat er es nicht, um einen spannenderen Plot zu entwickeln, sondern einen höheren Grad an Authentizität zu erreichen. Die Inszenierung von Stephan Kimmig ging weit über das hinaus, was man schlechthin als Diskussionsangebot bezeichnet. Es war eine Anklage, die in ihrem Plädoyer schlüssig war und dabei kompromisslos. Dass dieser Grad an künstlerischer Meisterschaft erreicht wurde, hängt ohne Zweifel damit zusammen, dass sowohl der Autor als auch der Regisseur noch deutliche Haltungen haben und die Kunst als ein Vehikel sehen, diese Anschauungen zu transportieren. Nun könnte man meinen, jeder Potentat versucht mit seiner Rhetorik dasselbe. Einen entscheidenden Unterschied gibt es allerdings: Dieser Abend war der Wahrheit geschuldet. Es war ein Plädoyer gegen den Krieg und seine Macher, wie man es selten zu sehen bekommt.
Atropos war die älteste Schwester der drei Schicksalsgöttinnen. Sie war die Zerstörerin, die den Schicksalsfaden, den die Schwester Klotho gesponnen und den die Schwester Lachesis bemessen hatte, durchtrennen musste. Das war ihre Aufgabe. Nun gab es in der Geschichte der Menschheit immer wieder Personen, die diese schicksalhafte Rolle für sich reklamierten. Es waren zumeist Menschen, die zu Narzissmus neigten, mittelmäßig oder sehr einseitig begabt und darum nicht in der Lage waren, sich durch besondere Fähigkeiten oder Fertigkeiten Anerkennung zu verschaffen. In diese Kategorie fallen beinahe alle Diktatoren und Potentaten. Diese Menschen haben allerdings alle eines gemein, den Willen zur Macht. Die mythische Figur des Agamemnon war ein solcher Mensch. Seine mangelnden intellektuellen Fähigkeiten ließ er sich durch Odysseus ersetzen, seine kriegerischen durch Helden wie Achilles. So konnte er letztlich als bedeutender Herrscher durch die Mythologie wandeln, denn so unersetzlich seine Eingeweideleser und Vollstrecker auch waren, die Entscheidungsgewalt gab er nie aus der Hand.
Dabei vereinte Agamemnon alle denkbaren Untugenden auf sich. Er war machtbesessen, gierig, eitel, skrupellos und gefühlskalt. So stellt sich seine Person zumindest in der Literatur dar, und nichts anderes ist die Mythologie. Doch mythologische Figuren haben ihren Ursprung in der Realität. Und sie sind literaturtauglich, solange sie ihre Entsprechung in der Realität finden. Wie grandios ist ein Werk, das beinahe dreitausend Jahre lang den Beweis erbringen kann, dass es wahrhaftig ist? Wie entsetzlich ist es hingegen, dass die Menschheit seit beinahe dreitausend Jahre Bescheid weiß (wissen kann) und sie nichts daraus lernt? Tom Lanoye erzählte die Geschichte des Agamemnon und seines trojanischen Krieges aus zwei Perspektiven, der des Kriegstreibers und der der Opfer. Er tut das auf so konsequente und intelligente Weise, dass wir den trojanischen Krieg getrost beiseite lassen und uns auf die aktuellen Kriege besinnen können. Traurig aber wahr, es gibt keinen Unterschied.
Tom Lanoye bedient sich einer Sprache, die an die großen Tragödiendichter (Aischylos, Sophokles und Euripides) erinnert. Er lässt die Schönheit der antiken Dramensprache auferstehen und schafft es gleichsam, den Zuschauer durch grandiose Brüche auf den Boden der (heutigen) Realität zurück zu bringen. Plötzlich hört man durch die Figur des Agamemnon alle Potentaten (zu denen auch die Oberhäupter vermeintlicher Demokratien gehören) der Neuzeit sprechen. Tagtäglich melden sie sich zu Worte und ihre Machtrhetorik stößt kaum mehr auf Widerspruch. Gleichsam bekommen durch die Klage Klytämnestras, Helenas, Hekabes, Andromaches und Kassandras die Opfer aller Kriege eine Stimme. Lanoye manipuliert nicht, er wählt nicht einmal manipulativ aus, sondern er gibt in entlarvender Weise wieder, was in der „Staatskunst“ zu tradierten Floskeln gerann, was seit Anbeginn die großen Verführungslügen sind. Wenn Politiker Metaphern benutzen, dann sind sie völlig ratlos. Wenn Politiker sich in die emotionale Begrifflichkeit des Schicksalhaften versteigen, dann ist Gefahr in Verzug. Tom Lanoyes dramatischer Entwurf ist ein grandioses Antikriegsstück, dessen Wahrheiten so einfach sind, dass man am erstaunten Lachen zu ersticken droht.
Stephan Kimmig brachte fast auf den Tag vor drei Jahren Lanoyes „Mamma Medea“ auf die Bühne der Münchner Kammerspiele. Bereits mit dieser Arbeit erbrachte er den Beweis, dass er sowohl mit Texten Lanoyes als auch mit den Themen der Antike hervorragend umgehen kann. Selbst die Entscheidung, Steven Scharf mit der Hauptrolle (Jason/Agamemnon) zu besetzen, zeugt von ausgezeichnetem Instinkt. Bühnenbildnerin Katja Haß, auch sie war am Erfolg von „Mamma Medea“ beteiligt, entwarf einen groben Bunkerbau, dessen weiße Tore wehrhaft wie genietete Stahlplatten wirkten. Einzig ein umlaufendes ornamentales Band erinnerte an das antike Griechenland. Das Spiel begann auf der Vorderbühne. Katja Bürkle gab eine erwartungsvolle Iphigenie, tanzte ausgelassen und angestrengt mit zwei Fahnen, als bereitete sie sich auf einem Wettkampf in sportlicher Gymnastik vor. Die Heirat mit Achilles stand ins Haus und ihr Überschäumen war Ausdruck der freudigen Erregung. Wiebke Puls trat als wissende Klytemnästra auf, vom ersten Augenblick an von einem mütterlichen Entsetzen gezeichnet, dass sie bis zum Ende des Dramas nicht mehr ablegte. Die Tochter sollte geopfert werden, damit der griechischen Flotte unter Agamemnon, Vater Iphigenies, endlich Wind beschieden sei. Steven Scharf, ein Darsteller, der aufgrund seiner physischen Erscheinung und seiner Stimmgewalt den zu groß geratenen, naiven Knaben ebenso geben kann wie den martialischen Bösewicht, verteidigte in der Rolle des Agamemnon die Unausweichlichkeit des Opfers. Er war an diesem Abend der Protagonist der Lüge und des Verrats, und er war großartig darin.
Der Grundtenor der Inszenierung war hochdramatisch und tragisch. Sämtliche Darsteller spielten mit enormem Einsatz und erhitzten das Thema bis zur Unerträglichkeit. Stephan Kimmig behandelte das Sujet blutig. Es wurde zwar kein Blut verspritzt, aber es trat anstelle der Kleidung von Mördern und Opfern. Kimmig gelang ein antikes Drama in modernstem Gewand. Walter Hess gab einen Namenlosen, der, wie der antike Chor, die Geschichte sprachgewaltig und eindringlich erzählte und kommentierte. Gundi Ellerts Hekabe und Katharina Hackhausens Andromache waren Monumente der Anklage, archetypische Opfer, und bei alledem sehr menschlich. Anna Maria Sturm gab eine Helena, der endlich einmal eine eigene Persönlichkeit zugestanden wurden. In den großen Tragödien war sie zumeist Spielball. Bei Lanoye/Kimmig wurde erstmals auffällig, dass es sich hier ebenfalls um eine menschliche Figur mit einem ureigenen Gefühlsspektrum und Anschauungen handelte.
Tom Lanoye wich in seinem Werk vom Mythos ab. Doch tat er es nicht, um einen spannenderen Plot zu entwickeln, sondern einen höheren Grad an Authentizität zu erreichen. Die Inszenierung von Stephan Kimmig ging weit über das hinaus, was man schlechthin als Diskussionsangebot bezeichnet. Es war eine Anklage, die in ihrem Plädoyer schlüssig war und dabei kompromisslos. Dass dieser Grad an künstlerischer Meisterschaft erreicht wurde, hängt ohne Zweifel damit zusammen, dass sowohl der Autor als auch der Regisseur noch deutliche Haltungen haben und die Kunst als ein Vehikel sehen, diese Anschauungen zu transportieren. Nun könnte man meinen, jeder Potentat versucht mit seiner Rhetorik dasselbe. Einen entscheidenden Unterschied gibt es allerdings: Dieser Abend war der Wahrheit geschuldet. Es war ein Plädoyer gegen den Krieg und seine Macher, wie man es selten zu sehen bekommt.
Wolf Banitzki
ATROPA. DIE RACHE DES FRIEDENS. DER FALL TROJAS
von Tom Lanoye
Florian Burgkart, Katja Bürkle, Gundi Ellert, Johannes Geller, Katharina Hackhausen, Walter Hess, Wiebke Puls, Steven Scharf, Anna Maria Sturm Regie: Stephan Kimmig |