Kammerspiele Der Prozess nach Franz Kafka
"Bis zum Äußersten / gehn / dann wird Lachen entstehn", forderte Samuel Beckett. Kafka tat dies bereits vor ihm und erntete Lachen, ersticktes, kein befreiendes, aber doch immerhin Lachen. Josef K. ist keine lächerliche Figur, doch die Umstände in denen er sich bewegt und der besondere Umgang mit diesen, machen ihn zu einer solchen. Bei Beckett kann dies nicht geschehen, denn seine Protagonisten begehren nicht mehr auf gegen Umstände. Sie sind selbst Bestandteile dieser Umstände geworden. Der Mensch in seiner Unzulänglichkeit ist eine lächerliche Figur.
"Leben müssen ist eine einzige Blamage", schrieb Marieluise Fleißer treffend. Sie schrieb das aber nicht über Kafkas Werk, sondern über das von Buster Keaton. (Zitat: Heft 16. Münchner Kammerspiele / Der Prozess)
Im Sommer 1964 entstand in New York unter der Regie von Alan Schneider Becketts "Film". Thema: Wahrnehmung. Für den Dichter kam nur ein Gesicht in Betracht, das von Buster Keaton. Im Programmheft zur Inszenierung an den Münchner Kammerspielen finden sich beide Porträts, Kafka und Keaton, nebeneinander. Auch Kafka und Beckett treffen sich nicht von Ungefähr. Beider großes Thema war das Zurückgeworfensein auf sich selbst. Becketts Focus war dabei weit radikaler, was ihn aber auch unverdaulicher machte. Kafka schenkte uns neben der menschlichen Dimension des Absurden zusätzlich noch die gesellschaftliche. Und genau dieser Umstand beschert dem Betrachter Ängste.
Lena Lauzemis, Sylvana Krappatsch, Oliver Mallison, Bernd Moss, Annette Paulmann, Katharina Schubert, © Arno Declair |
Regisseur Andreas Kriegenburg hatte sich aufgemacht, den komischen Kafka für das Münchner Publikum zu entdecken. Für viele Zuschauer wurde diese Inszenierung zur Offenbarung. Nein, es wurde kein heiterer, aber in jedem Fall ein komischer Abend. Josef K., für Kafka mehr als eine konkrete Person, taucht sie doch in vielen unterschiedlichen Werken des Dichters auf, steckt in jeder handelnden Person. So gibt es mindestens sieben K.s und jede dieser Figuren schlüpft auch in die für die Handlung notwendigen Rollen. Das ist an sich schon komisch. Noch komischer wird es, wenn der siebenfache K. reagiert. Hier wird deutlich, wie facettenreich und gleichsam widersprüchlich ein Mensch ist.
Die Geschichte ist unfassbar. Sie dauert ein knappes Jahr und endet mit der Hinrichtung des Protagonisten. Dazwischen vollzieht sich eine Verurteilung, von der niemand Kenntnis hat und die durch die Hinrichtung äußerlich "Rechtsgültigkeit" erlangt. Wer über K. geurteilt hat bleibt im Verborgenen, ebenso die Gründe, die dazu führten. Der Leser erlebt einen verzweifelten Menschen, der sich keiner Schuld bewusst ist und der sich den unsichtbaren Vorgängen dennoch nicht entziehen kann. Die Schuldfrage erfährt auf sonderbare Weise eine Begründung: "Unsere Behörde (...) sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt, von der Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken. Das ist Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum?"
Es steht scheinbar außer Frage: Der gesellschaftliche Mensch ist den diktatorischen Bestrebungen der Institutionen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Doch so leicht machte es sich Andreas Kriegenburg nicht. Die deutliche Hervorhebung des Kapitels 7, in dem der Maler Titorelli erklärte, welche Varianten der Freisprechung möglich sind, zeigte zumindest auf, dass der Mensch durchaus auf die Gerechtigkeit verzichten kann, wenn es ihm zum Vorteil gereicht. In dieser ausufernden Szene brillierte Annette Paulmann rhetorisch. Einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis von Kafkas Anliegen lieferte des Kapitel 9, in dem Josef K. aus dem Mund des Gefängniskaplans erfährt, dass der Mensch selbst die Katastrophe im Recht sucht. Seine Motive sind lauter, doch hinlänglich dumm, denn das System, dem sich der Mensch begierig unterwirft, ist seelenlos und unmenschlich.
Selten leistete eine Inszenierung von Kafkas "Der Prozess" so deutliche Aufklärung. Doch diese Tugend ist es nicht, die die Theateraufführung zu etwas Außergewöhnlichem machte. Es war die Ästhetik, mit der Andreas Kriegenburg überzeugte und verblüffte.
Sein Bühnenbild war ein Tummelplatz für Kafkasüchtige. Man konnte darin Gregor Samsa sein, das an der Decke hockende Insekt, denn der Raum war auf irritierende Weise aus der besonderen Perspektive der Draufsicht erfahrbar. Es war ein türenloser Raum, ein Gefängnis, in dem ein vervielfachter Josef K. unbeholfen, linkisch, verunsichert und aufbegehrend agierte.
Das Bühnenbild konnte ebenso als Auge des Betrachters begriffen werden, in dessen Pupille sich der Aktionsraum spiegelte. Kriegenburg ließ sich dabei ganz augenscheinlich vom Cartoonisten Robert Crumb, ein Mitgründer der Underground-Comics-Bewegung, inspirieren, der in seinen Darstellungen insbesondere zu "Vor dem Gesetz" die selbe Atmosphäre schuf. Nicht nur dienlich, sondern kongenial war die beinahe permanente Musik von Laurent Simonetti in ihrer Unaufdringlichkeit, deren Suggestion absolut zwingend war.
Es ist schier unmöglich, die Leistungen der Schauspieler im einzelnen zu benennen, gingen sie doch alle irgendwann in irgendeiner Facette des Josef K. auf. Selbst wenn sie andere Rollen spielten, blieb immer noch ein Rest Josef K. übrig, nämlich der, der in jedem Menschen steckt. Regisseur Kriegenburg verlangte den Darstellern alles ab. Jeder von ihnen war in ständiger Aktion, stellte vor und dar, gestaltete und kommentierte. Nicht selten war es für den Zuschauer schwierig, sich nicht von sechs K.s ablenken zu lassen, wenn der siebente im Vordergrund um sein Überleben kämpfte. Die szenischen Einfälle hätten gut für zwei Inszenierungen gereicht. Kriegenburg lief bei dieser Arbeit zu ganz großer Form auf und riss die Schauspieler in einen wahrhaften Taumel komödiantischer Spielwut.
Diese Inszenierung hätte sicher die Zustimmung Kafkas gefunden, denn sie verwandelte die Welt für zwei und eine halbe Stunde in ein kafkaeskes Universum.
Wolf Banitzki
Der Prozess
nach Franz Kafka
Walter Hess, Lena Lauzemis, Sylvana Krappatsch, Oliver Mallison, Bernd Moss, Annette Paulmann, Katharina Schubert, Edmund Telgenkämper Regie: Andreas Kriegenburg |