Volkstheater Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone von Mark Haddon


 

 

Fünf rote Autos

Spätestens seit „Rain Man“ mit Dustin Hoffman und Tom Cruise ist das Thema Autismus in der Kunst angekommen. Mit einem heiligen Schauer betrachtet man diese Mitmenschen, die einerseits nicht gesellschaftsfähig sind, weil ihre Kommunikation gestört ist oder eigenen Regeln folgt, die sich fernhalten von sozialen und vor allem physischen Kontakten, die aber andererseits z.T. über erstaunliche Fähigkeiten verfügen. In „Rainman“ ist es das blitzschnelle Erfassen, das fotografische Gedächtnis, das die beiden Brüder in Las Vegas in den Stand versetzt, die Bank zu sprengen. Es geht eine große Faszination von diesen Menschen aus, die aber vornehmlich unserer Sensationslust und unserem Voyeurismus entspringt. Es ist das Unvorstellbare, zu dem diese Menschen in der Lage sind. Doch das Unvorstellbare ist Resultat eines psychischen Defektes. Diese Menschen sind umso bedauernswerter, weil sie nicht selten heftig unter sich selbst, unter ihrem psychischen Zustand leiden. Persönliches Glück lernen sie nicht kennen. Strenge Ordnungen müssen aufgestellt und eingehalten werden, um einigermaßen über den Tag zu kommen. Diese Krankheit ist nicht heilbar.

Nicole Oder (Jahrgang 1978) brachte den Roman „The Curious Incident of the Dog in the Night-time“ (Ein Arthur Conan Doyle Zitat aus „Silver Blaze“) von Mark Haddon unter dem Titel „Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone“ auf die kleine Bühne des Münchner Volkstheaters. Die Dramatisierung hatte kein Geringerer als Simon Stephens übernommen. Erzählt wird die Geschichte des 15jährigen Christopher, der alle Symptome von Autismus aufweist. Autor Haddon diagnostizierte sie in seinem Buch nicht explizit. Die Tatsache, dass er alle Länder der Erde, inklusive der Hauptstädte, und jede Primzahl bis 7507 kennt, suggeriert allerdings die Tatsache. Eines Tages findet Christopher Wellington, den Hund der Nachbarin, von einer Mistgabel durchbohrt auf dem Rasen. Da die Polizei sich nicht weiter um den Fall kümmert, nimmt Christopher die Ermittlungen auf, wobei er in eine Welt vordringt, die ihm bislang verschlossen war. Es ist die Geschichte von bitteren Einsichten, und einem verzweifelten Kampf um Selbstbehauptungen. Er klärt den Fall auf, muss dabei aber einige bittere Wahrheiten in Kauf nehmen. Am Ende der Geschichte steht ein Erfolgserlebnis für Christopher, nämlich das Ergebnis seiner Mathematikprüfung, das sich allerdings entsprechend seiner Logik schon angekündigt hatte. Fünf rote Autos infolge bedeuten: Supergute Tage!

 

  SuperguteTage  
 

Pascal Riedel, Jakob Geßner, Barbara Romaner

 © Gabriela Neeb

 

Franziska Bornkamm, sie ist Schülerin von Erich Wonder, schuf einen grauen Raum, an deren Wänden kaum merklich labyrinthische und geometrische Muster zu sehen waren. Diese Wände dienten gleichsam als Projektionsflächen für ein Lichtdesign, das den Mustern folgte, aber auch darüber hinausging. Anfangs waren die Muster das Ordnungsprinzip, an dem sich Christopher orientieren konnte, später wurden diese durchbrochen, und das Chaos einer nichtlinearen Reise zeichnete sich ab. Zudem tauchten in Lichtfeldern unterschiedlichste fremde Menschen auf, bei denen Christopher beispielsweise Hilfe suchte.

Regisseurin Nicole Oder ließ streckenweise stark verfremdete spielen. Sie stellte Christopher, der sich selbst nicht als „unnormal“ wahrnehmen konnte, eine auf ihn völlig unnatürlich wirkende Außenwelt gegenüber. Sehr suggestiv unterstützt wurden die Vorgänge durch einen ausgefeilten Sound von Samuel Schaab. Jakob Geßners knappe Darstellungen von Nebenrollen, von peripheren Figuren waren schrill und skurril. Ähnlich gestaltete Barbara Romaner die Figur einer Nachbarin. Zur natürlichen Spielweise kehrte sie bei der Gestaltung von Christophers Mutter zurück. Für Christopher war sie die wichtigste Person, folglich erschien ihm ihr Verhalten als normal oder natürlich. Regisseurin Oder betonte mit dieser Spielweise die extreme subjektive Sicht des Ich-Erzählers Christopher. Nur von seiner Mutter war er bereit, sein Essen zu empfangen. Doch auch die Figur der Mutter hatte psychische Grenzen. Der Anspruch auf ein eigenes, halbwegs unbeschwertes Leben führte in die Überforderung und zur Flucht aus der Familie. Eckhard Preuß gab den in sich gekehrten Vater, der so pragmatisch mit der Geschichte umzugehen suchte, wie nur möglich. Auch er kam bald an seine Grenze und als seine große Lebenslüge aufflog, verlor er zusätzlich noch das Vertrauen seines Sohnes. Das ist für einen Autisten ein beinahe irreversibler Zustand.

Pascal Riedel, er ist eine fragile Erscheinung, spielte den Christopher hochkonzentriert und sehr körperlich. Man nahm ihm den 15jährigen Jungen in allen seinen, durch die Krankheit provozierten Nöten problemlos ab. Gefühle kannte er nur aus den Beschreibungen seiner Mutter. Lächeln war ihm nicht vergönnt. Extremste Expression war das Anschreien gegen ungewollte und darum unerträgliche Situationen. Christopher musste wachsam und konzentriert seine Rituale im Auge behalten, die sein Leben beherrschten und ordneten. Ein Ausbrechen daraus, ob freiwillig oder unfreiwillig, hatte gravierende Folgen. Seine Exkurse durch die Astronomie, durch die Astrophysik oder auch nur durch die formale Logik wurden zwar äußerlich emotionslos vorgetragen, erweckten aber durch die Sprache und die konzentrierte Darstellung den Ausdruck von innerer Emphase. In dieser Welt fühlte sich Christopher sicher; es war seine Welt. Riedels Spiel war beeindruckend und berührend. Aber auch die Bühnenästhetik und der Ansatz, aus der Perspektive eines Autisten heraus, die Bilder zu schaffen, wie sie im Kopf des kranken Jungen existieren, überzeugten.

Es ist thematisch keine „weltbewegende“ Geschichte, denn eine Allgemeingültigkeit ist wegen der singulären Besonderheit schwerlich ableitbar. Vielmehr ließe sich aus dem Umgang mit ihr eine allgemeingültige Botschaft ableiten. Der Abend am Volkstheater zielte allerdings nicht vordergründig darauf, sondern unterhielt mit einem spannenden, weil exotischen Thema und einer ästhetischen Umsetzung, die getrost als besonders bezeichnet werden darf. Dem Publikum gefiel es. Langer Applaus.

Wolf Banitzki

 

 


Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone

von Mark Haddon

Pascal Riedel, Barbara Romaner, Eckhard Preuß, Jakob Geßner

Regie: Nicole Oder