Volkstheater Nystagmus - Eine große deutsche Kunstausstellung (UA) von Eyal Weiser
Wollt Ihr die totale Interpretation?
Nun, groß war sie nicht, die „große deutsche Kunstausstellung – Nystagmus“ auf der Bühne des Volkstheaters, konzipiert und in Szene gesetzt von dem Israeli Eyal Weiser. Doch ein Aufreger war und ist sie allemal. Und, entgegen allen Befürchtungen, es war Theater, das Bildende Kunst zwar zum Thema, aber nicht hauptsächlich zum Inhalt machte. Anders als üblich, wo jede verkaufte Karte auch Beleg für die haushalterische Daseinsberechtigung des Theaters gilt, wurden aus technischen Gründen ca. 300 Karten verkauft. So war der Zuschauerraum nur etwa zur Hälfte besetzt (2. Vorstellung). Schließlich mussten die Zuschauer zuerst auf die Bühne, wo sie einige Kunstwerke betrachteten. Die Kunstwerke sollen an dieser Stelle nur Erwähnung finden und nicht weiter beschrieben werden: Sybille Maria Lang: Zwei Barren Installation 2013-14; Ohad Fisher: One More Song, Video 2008; Dana Darvish: Rear View, Video loop 2012; Dana Goshen: Face Video loop 2012 und schließlich konnte auch noch der Performancekünstler Bruno Spatz („Mein Muttermund“) bestaunt werden. Bereits in diesem kurzen Rundgang wurde der Betrachter aufs Glatteis geführt, denn unter den Arbeiten befanden sich schon einige (artifizielle) Fakes.
Ausgangspunkt dieses Projektes war für Eyal Weiser die von Adolf Hitler 1937 veranstaltete Ausstellung „Entartete Kunst“ in deren Folge ein Großteil der Avantgardekunst aus der Öffentlichkeit verbannt und die Künstler mundtot gemacht wurden. Hitler hatte für die ästhetischen Abweichungen vom platten Realismus eine ebenso einfache wie blödsinnige Erklärung: Diese Künstler litten allesamt unter Nystagmus. Unter Nystagmus versteht man gemeinhin ein unkontrolliertes Augenzittern. Der Gröfaz meinte: Diese krankhafte Erscheinung verhinderte bei genannten Künstlern eine realistische Wahrnehmung. Es ist wahr und dennoch kaum zu glauben, dass es Menschen gab, die diesen Blödsinn glaubten und Hitler nicht augenblicklich als Psychopaten ausmachten. Einige der oben aufgeführten Werke wurden vom Kurator der Ausstellung Anton Ehrlich (Oliver Möller) präsentiert, um zu veranschaulichen, dass die Abstraktion von der Realität und die ästhetische Brechung Wahrheiten zutage fördern, die das Wesen des Gegenstandes ausmachen. Und das ist das Anliegen aller Kunst: Die Sichtbarmachung des Wesentlichen, das in der Erscheinung schlummert.
Und so begann die Performance mit der Erläuterung von Dana Goshens Video loop „Face“ durch den Kurator Anton Ehrlicher. Schon im Namen des Kulturbeauftragten und Wissenden verbarg sich eine emotionale Fußangel, steht der Vorname doch für den ersten Buchstaben des Alphabets. Mit ein wenig Mut könnte man hineininterpretieren, hier trat der erste auf, der grundehrlich ist, dem man vertrauen konnte. Oliver Möllers prägnante Stimme vermittelte tiefste Überzeugung. Allein, wer genau hinhörte, musste feststellen, dass der interpretatorische Bogen weit, sehr weit gespannt war, was an dem beeindruckenden und verstörenden Charakter des Videos nichts änderte. In jedem Fall hätte es sich auf Hitlers Liste wiedergefunden. Allein das Kostüm und die Frisur Möllers, er war von den Muslin Brothers gestalten worden, ließe vage Zweifel an seiner geistigen und emotionalen Seriosität aufkommen.
Johannes Meier und Leon Pfannenmüller © Arno Declair |
In der zweiten Geschichte wurde die Familiensaga der Rein-Merchav-Familie erzählt. Sie beginnt mit der Malerin Emma, deren Aquarelle in Hitlers Ausstellung der „Entartung“ gezeigt wurden. Bei Emma diagnostiziert man eine Schizophrenie und 1944 wurde sie von den Nazis hingerichtet. Großvater Georg Rein war der SS beigetreten und avancierte in den Ostgebieten zum Massenmörder. Ihm gelang nach 1945 die totale Verdrängung und die Rückkehr in den bundesdeutschen Apparat als honoriger Richter. Doch die Vergangenheit holte ihn in Gestalt eines DDR-Stasioffziers ein, der Georg für den ostdeutschen Geheimdient mittels Erpressung rekrutierte. Er erfuhr die Erlösung in Form einer Alzheimer Erkrankung und schied bald hüben wie drüben aus dem Dienst und schließlich aus der Gesellschaft aus. Seine Tochter Helene ging, um die Schuld der Vater-Generation zu kompensieren und der rigiden BRD zu entfliehen, in einen Kibbuz nach Israel. Dort heiratet sie einen gewissen Merchav, der im Libanonkrieg fiel. Es folgen tiefe Depressionen.
Die Geschichte ist Fiktion; die ästhetische Umsetzung war beeindruckend. Während der Erzählung schuf Max Wagner, blond und deutsch, als wäre er einer Zwieback-Werbung aus den 50ern entsprungen, Bilder, in dem er mit einem schwarzen Band Punkte an den weißen Wänden verband. Es entstand das Bildnis der Malerin Emma, das ihm zum verwechseln ähnlich sah. Der Weggang nach Israel wurde dreidimensional, ein räumliches Gebilde, in dem sich Max Wagner schließlich verfing.
Diese fiktive Geschichte, die europäische Historie von fünfzig Jahren brachial herunterriss, steckte so voller Wahrheiten, dass ihre Ausformulierung Wahrheit gebar. Auch das ist eine wesentliche Eigenschaft von Kunst, nämlich die Wahrheit durch die Fiktion aufzuspüren. Über die Fiktion hinaus, nämlich in die Esoterik glitt die Geschichte von Sybille Maria Lang (Lenja Schultze) ab, die gemeinsam mit ihrer Mutter (Ursula Maria Burkhart), einem Medium aus Oberammergau, die Kunst (nach konkreten Anweisungen verstorbener Maler) und auch Wahrheit „channelt“. Wie es der Zufall wollte, war die Tochter des Deutsche-Bank-Chefs Jürgen Fitschen (Mara Widmann) in der Vorstellung. Sie arbeitet für die Kunstsammlung der Deutschen Bank und wünschte vom Medium zu erfahren, wo sich das Kruzifix von Ludwig Gies, wichtiger Bestandteil der Ausstellung Hitlers, verblieben war. Nebenbei spürt der Zuschauer deutlich, dass es hier um mehr ging, als den Erhalt eines Kunstwerkes. Tatsächlich erhielten viele Künstler durch Hitlers Diffamierung so etwas wie den Ritterschlag. Ihre Werke wurden nach dem Krieg zu Höchstpreisen gehandelt. Kunst als Wertanlage. Doch es meldete sich nicht Gries aus dem Jenseits, sondern ein gewisser Alois. Aus dem Mund von Ursula Maria Burkhart erklangen nun die letzten Worte von Jesus. Alois selbst war zum Kruzifix geworden, denn er war der von Hitler beklatschte Darsteller des Jesus in den Passionsspielen in Oberammergau. Eyal Weisers Seitenhieb auf den Missbrauch von Kunst durch die Esoterik und auf die Reduktion von Kunst auf ihren Marktwert saß. Frau Fitschen zog peinlich berührt und beleidigt von dannen, Anton Ehrlich versuchte stotternd die Situation zu retten und das Medium, alias Frau Burkhart meldete unverhohlen einen gesunden Hunger an.
„Werbeunterbrechung“ nannte sich das monumentale Video und die Performance der Sturm-Brüder (Johannes Meier und Leon Pfannenmüller), die sich wie Derwische im Kreis drehten, während Bilder aus der Werbung, aufreizend, verstörend und überästhetisiert auf das Publikum einhämmerten. Die Parallelen der heutigen Werbeästhetik zu der Ästhetik Leni Riefenstahls lassen sich kaum leugnen. Sie war eine wahrhafte Revolutionärin in Bezug auf Filmtechnik und kann wohl getrost als Mutter des Propagandafilms bezeichnet werden. Nichts anderes als Propaganda ist Werbung. Dabei ist der Inhalt des gesprochenen Wortes oder des Bildes völlig nebensächlich. Entscheidend ist, dass die Synapsen sich schütteln und die Marke so schnell wie möglich generalisiert wird. Nirgendwo ist Ästhetik so verlogen wie in der Werbewirtschaft. (In diesem Zusammenhang sei der Film „99 Cent“ von Jan Kounen empfohlen.)
Wer nun meint¸ Eyal Weiser könnte die Geschichte nicht noch toppen, der irrt, denn es ist immer noch der „Künstler als Irrläufer“, oder als Hybrid, wie Kurator Ehrlich ihn nennt, unbeachtet geblieben. Er ist der typische Bewohner der Szeneräume und hat im Grunde nichts als sich selbst anzubieten. Sein Name ist Bruno Spatz, der mit seiner Performance „Die Nabelschnur“ einiges Aufsehen erregte, während er an der UdK in Berlin studierte. Selbstredend ist auch dieser Mann ein Fake, doch er verkörpert einen Typus und Ideen, die virulent aus dem Boden schießen wie Pilze nach einem warmen Regen. Es sind die Menschen im Prozess der „Selbstfindung“, die in ihrer Orientierungslosigkeit den Künstler in sich entdecken. Und so ist Bruno Spatz, mit einem grandiosen Jean-Luc Bubert besetzt, eine lächerliche Figur, die, um sich halbwegs effektvoll selbst in Szene zu rücken, bis zum Äußersten gehen muss. Angefeuert von seiner Muse und Lebenspartnerin Magdalena Wiedenhöfer, verkaufte er seine sämtlichen Ausscheidungen als Kunst. Es ist doch, und daran besteht kein Zweifel, nur eine Frage der Interpretation. Und so eskalierte der Abend in dem hysterischen Schrei Wiedenhöfers: „Wollt ihr die totale Interpretation?“ - und die lautlose, reflexartige, weil aus dem Fleisch und dem Blut kommende Antwort war unüberhörbar: Ja!
Dieser Abend war eine wahrhaft gelungene Kritik an der Kunst, die sich durchaus selbst im Wege stehen kann; am Kunstapparat, der vornehmlich verhindert; am Kunstmarkt, der Kunst profanisiert; an der Kunstkritik, die sich in ihrer totalen und totalitären Kritik gefällt; an der Politik, die Kunst immer wieder zur Hure macht und am Kunstpublikum, das endlich einmal mündig werden sollte. Mündig bedeutet nicht, auf das unverbrüchliche Recht zu beharren, die Vorstellung vorzeig verlassen zu können, wenn es beliebt, sondern sich den Vorgängen zu stellen.
Auch die Frage, ob Kunst sich von Ideologien emanzipieren kann, wurde gestellt. Die Antwort ist zwiespältig und kann auch nicht letztgültig gegeben werden. Es gibt Kunst, die leider ohne Ideologie keine Inhalte hat. Es gibt aber auch Kunst, die mit allen Inhalten bricht und Weltanschauungen hervorbringt. Leider werden diese Wahrheiten immer wieder von der Mittelmäßigkeit okkupiert und alsbald in Ideologien umgewandelt. In der Kunst ist es wie im wahren Leben: Mal so, mal so.
Es wäre schön, wenn diese Arbeit von möglichst vielen Zuschauern angenommen würde, denn sie ist in erster Linie ein Diskussionsangebot. Und Diskussion ist ein Wort, was man heutigentags viel zu selten im Zusammenhang mit dem Theater hört. Wie soll sich da Theater und Kunst im Allgemeinen entwickeln? Eines hat uns immerhin Eyal Weiser voraus. Er leidet unter der konservativen Verkrustung der Kunst in Israel. Aber das macht ihn richtig bissig.
Wolf Banitzki
Nystagmus - Eine große deutsche Kunstausstellung (UA)
von Eyal Weiser
Jean-Luc Bubert, Ursula Maria Burkhart, Johannes Meier, Oliver Möller, Leon Pfannenmüller, Lenja Schultze, Max Wagner, Mara Widmann, Magdalena Wiedenhöfer Regie: Eyal Weiser |