Volkstheater  Kinder der Sonne von Maxim Gorki


 

 

Polonaise in die Revolution

Nach der recht eigenwilligen Interpretation von Shakespeares „Julius Cäsar“ in der vergangenen Spielzeit, wartete der ungarische Regisseur Csaba Polgár nun am selben Haus mit seiner Lesart von Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ auf. Das Drama um eine (spieß-) bürgerliche Familie im Russland des Jahres 1905, das Jahr, in dem der Beginn der proletarischen Revolution von 1917 mit dem „Blutsonntag“ eingeläutet wurde, gleicht einem Tschechowschen Panoptikum, nur etwas grobschlächtiger.

Hauptheld ist der eigenbrötlerische Wissenschaftler Pawel Protassow, der keine Zeit für seine gelangweilte Ehefrau Jelena erübrigen kann, die sich folglich auf eine Tändelei mit dem Kunstmaler Wagin einlässt. Die standesgemäß kränkelnde Schwester des Wissenschaftlers mit Namen Lisa sehnt sich nach Liebe, weist jedoch die des Tierarztes Tschepurnoj, ein Freund der Familie, bis zum Schluss vehement zurück. Der Wissenschaftler Pawel Protassow muss sich seinerseits den Nachstellungen der reichen Witwe Melanija erwehren. Nebenher wird der häusliche Frieden durch die Belange der Domestiken belastet, so durch den Schlosser Jegor, der regelmäßig und zum Entsetzen des Philanthropen Protassow seine Ehefrau verprügelt, oder durch den Dienstjungen Jascha, der mit seinem Körper Handel treibt und sich meistbietend an einen alten Mann und nicht an den schmierigen Hausbesitzer und Vermieter Nasar verkauft. Zusammengehalten wird dieses bürgerliche Familienbefindlichkeitstheater von der Amme Antonowna. Zumindest versucht sie es.

Maxim Gorki (1868-1936), der „proletarische Schriftsteller“ schlechthin, was seine literarischen Verdienste allerdings keinesfalls schmälert, entlarvte in dem 1905, während seiner Haft in der Peter-und-Pauls-Festung von St. Petersburg, geschriebenen Stück die gebildete bürgerliche Mittelschicht, die die Ordnung als von Gott gegeben nahm und frei von Empathie war für die große Zahl der verarmten und in Elend lebenden Massen. Er feindete diesen Teil der Intelligenzija nicht nur an, er disqualifizierte sie gleichsam von der Teilnahme an der Revolution, die sich letztlich proletarisch nannte, was in einem Land wie Russland, in dem das Proletariat seinerzeit verschwindend gering war, immerhin seltsam anmutet.  

Die Gesellschaft um Protassow ist eine tragikomische, denn sie bemüht sich redlich um die Ideen des Humanismus. Diese auch praktisch und handelnd umzusetzen, fühlt man sich allerdings nicht berufen. Die pathetische Deklamation reicht völlig. Und wenn Pawel Protassow das tut, findet zumindest die entzückte Witwe Melanija dies abendfüllend. Doch im Hintergrund gärt es. Und weil sich im Stück die Entrechteten und Geknechteten nicht so recht zu artikulieren vermögen, baute Gorki eine bedrohliche Metapher ein: eine Choleraepidemie, die sich langsam aber unaufhaltsam durch das gewaltige Russland frisst. Stichwort Epidemie! Spätestens hier sind wir im Heute angekommen. Dabei ist es nicht ganz ungefährlich, das „Gespenst des Kommunismus“ mit einer Choleraepidemie zu vergleichen, obwohl dieser geistige Kurzschluss sicherlich breite Zustimmung in der heutigen Gesellschaft finden dürfte.

  Kinder-der-Sonne  
 

Barbara Romaner, Tobias van Dieken, Constanze Wächter, Oliver Möller hinten: Tamás Keresztény, Gusztáv Molnár, Katalin Szilágyi, Diána Magdolna Kiss, Justin Mühlenhardt

© Arno Declair

 

Wie schon in „Julius Cäsar“ zeichnete auch in dieser Inszenierung Lili Izsák für Bühne und Kostüme verantwortlich. Und so verwunderte es auch nicht, dass sich Ähnlichkeiten auftaten. In Julius Cäsar gab es eine umfangreiche Trophäensammlung (Hirsch- und Bockgeweihe), im Gorki-Stück eine beträchtliche Sammlung von Marienfiguren, die in einem eigens eingerichteten Regal geparkt waren. Die Aufgabe von Ursula Maria Burkhart als Amme Antónowna schien es zu sein, diese glänzenden Figuren staubfrei zu halten, was sie auch hingebungsvoll tat. Was im „Julius Cäsar“ nur Andeutung war, wurde jetzt ästhetisches Postulat: Realismus bis Naturalismus. Die von kaltem Neonlicht beleuchtete Guckkastenbühne war mit schmutziger und reichlich verwahrloster 70er Jahre Tapete ausstaffiert. An den Stoßkannten züchtete Pawel Protassow zu wissenschaftlichen Zwecken Grün – und Braunalgen.  Rohrleitungen schlängelten sich an Wänden entlang und auch quer durch den Raum. Eine endete in einem Rondell, das sich bald als Whirlpool entpuppte, in dem die wohlsituierte Familie immer wieder relaxte. Sämtliches Mobiliar erinnerte nicht einmal andeutungsweise an die Belle Époque, die zur Entstehungszeit des Dramas im Untergang begriffen war, sondern an die Spätphase des osteuropäischen, real existierenden Sozialismus. Der allerdings stand historisch betrachtet noch bevor.

Das war allerdings nicht die einzige Ungereimtheit. Im Hintergrund gab es auf einem dicken Rohr ein Podest, auf das sich die Bediensteten zurückzogen und „Bilder“ vorstellten. Dabei entstanden auch schon mal Figurenensembles, die an bekannte Motive des sozialistischen Realismus erinnerten, beispielsweise an allegorische Figuren, die Hammer und Sichel gen Himmel streckten. Der Dienstjunge Jascha und das Dienstmädchen Luscha („Ich bin Jungfrau!“), frisch und knackig gespielt von den rotwangigen und streng gekämmten Justin Mühlenhardt und Diána Magdolna Kiss, erinnerten in blau-weißen Schüleruniformen mit weißen Kniestrümpfen an stramme DDR-Jungpioniere. Eine prophetische Vorschau auf eine Geschichte, die inzwischen auch hinter uns liegt? So recht erschloss sich die Logik dieser Spielart nicht.

Regisseur Csaba Polgár setzte in seiner Inszenierung dieser Komödie auf witzige szenische Lösung und auch auf Slapstick. Dabei ging der Sprachwitz und die Situationskomik, wie sie Gorki vorgab, häufig unter. Die Hauptrollen wurden mehr oder weniger einschichtig gestaltet. Oliver Möllers Pawel Protassow glich, obgleich er im Text durchaus auch ein Träumer ist, eher einem Laboranten, der stupide und mit Scheuklappen sein Pensum abarbeitete. Barbara Romaners Ehefrau war geradezu narzisstisch eher auf sich selbst fixiert, als dass sie das Kauzige ihres Mannes Pawel hätte bloßlegen können. Selbst Mara Widmann, sie spielte sehr aufwendig und agil, blieb in der Rolle der Witwe Melanija zu zweidimensional. Ebenso Max Wagner als liebender Tierarztes Tschepurnoj. Gerade diesen Figuren ist eine illustre Doppelbödigkeit gegeben. Wenn es einem Darsteller gelang, seine Figur in den Rang einer Kunstfigur zu erheben, dann war das Tobias van Dieken als Maler Wágin. Er konnte sich in einigen Szenen dem Sog des Realismus entziehen und eben die Komik freisetzen, wie sie von Gorki im Text angelegt ist.

Constanze Wächter als kränkelnde Lísa fixierte hauptsächlich das Sofa vor dem Fernseher, als könnte dieses davon springen. Neben einigen wenigen eruptiven Gefühlswallungen gehörte ihr zwar der Showdown am Ende, darüber hinaus blieb sie recht blass, kränkelnd eben. Für Tumult sorgte Gusztáv Molnár in der Rolle des saufenden und Frauen verprügelnden Schlossers Jegór. Bärenhaft durchmaß er die Szene und machte dabei gelegentlich eine recht putzige Figur. Irgendwie erinnerte er an Bruno. Fassungslos macht jedoch der Einsatz Jean-Luc Buberts in der nicht näher erklärten und kaum plausiblen Rolle des Jákow Tróschin. Bei Jean-Luc Bubert handelt es sich um einen der potentesten Darsteller des Ensembles. Als Tróschin war er ein Freund des Schlossers Jegór, der am Ende unvermittelt die Revolution einläutete, oder zumindest das, was er dafür hielt. Beinahe den gesamten zweiten Teil des Stückes stand er mit dem Gesicht zur Wand gekehrt, ein Flasche in der Hand, auf einer Leiter. Wenn das keine Vergeudung von Ressourcen ist! Seinen großen Auftritt hatte er in Form eines Unfalls, denn er stieg von der Leiter herab, um einen Knick aus einem Schlauch zu entfernen mit dem Oliver Möller Barbara Romaner abspritzte, weil die sich in ihrer Rolle eventuell mit Cholera infiziert hatte. Szenenapplaus für Bubert.

Regisseur Csaba Polgár präferiert Musik auf der Bühne und gestaltet sein Sprechtheater zu einer Art Revue. Das belebt und bietet sich bei Komödien durchaus an. Und so ist es nur konsequent, wenn sich die ganze Gesellschaft zu einer gnadenlosen, weil niemand auslassenden Polonaise zusammenfügt, mittels der man in die Revolution hinein taumelt.

Interessant war zuletzt die seltsame These von Buberts Jákow Tróschin, der erklärte, dass die Cholera nur eine Erfindung der Kapitalisten sei. Es ist der Ton, der die Musik macht und in den Worten Tróschins schwang bereits der Unterton mit, den Majakowski zum Wortlaut des Fanals  machte: „Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns!“ Was folgte, ist hinlänglich bekannt: Achtzig Jahre Diktatur des Proletariats.


Wolf Banitzki

 

 


Kinder der Sonne

von Maxim Gorki

Oliver Möller, Constanze Wächter, Barbara Romaner, Tobias van Dieken, Max Wagner, Mara Widmann, Leon Pfannenmüller, Gusztáv Molnár, Katalin Szilágyi, Jean-Luc Bubert, Antónowna, Ursula Maria Burkhart, Justin Mühlenhardt, Diána Magdolna Kiss, Tamás Keresztény

Regie: Csaba Polgár

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