Volkstheater Kleine Bühne Amsterdam von Maya Arad Yasur


 

Und Jan trinkt seinen Jenever

Einer jungen israelischen Violinistin flattert ein Brief der Stadtverwaltung Amsterdam in ihre Wohnung in der Amsterdamer Keizersgracht. Der Brief ist ihr unter der Tür hindurch geschoben worden. Vom Briefträger kann er nicht gewesen sein, denn Briefträger klingeln in Amsterdam nicht. Briefträger schieben Briefe grundsätzlich durch den Briefschlitz in der Eingangstür des Hauses. Sie arbeiten sich nicht zu den einzelnen Wohnungen durch. Vielleicht hat ihn aber auch Jan, der alte, griesgrämige, wortkarge Nachbar von Oben unter der Tür durchgeschoben. Das irritiert und verunsichert die junge Frau, die im neunten Monat schwanger ist. Der Brief enthält eine Gasrechnung für ihre Wohnung aus dem Jahr 1944. Die junge Violinistin beginnt Nachforschungen anzustellen, wen und was diese ominöse Rechnung betrifft. Nach vierundzwanzig Stunden kennt sie die Wahrheit, oder eine vermeintliche Wahrheit, denn eine Reise in den „Schacht“ der dunkelsten Geschichte Europas mit weltweit verheerenden Folgen ist ein Wagnis. Die junge Frau erfährt am eigenen Leib, dass die liberale und weltoffene Gesellschaft in Amsterdam gleichsam dunkle Flecken und schlecht verheilte Wunden aufweist.

Die israelische Autorin Maya Arad Yasur schuf mit ihrem dramatischen Text ein vielbeachtetes Werk, das schon durch die Form verblüfft. Es ist keine fertige Geschichte, gegenrecherchiert, streng durchkomponiert und am Ende verbindlich. Es ist vielmehr der sichtbare Entstehungsprozess einer Geschichte, an dem drei Darsteller beteiligt sind. Sie erklären den Status, spekulieren über den Fortgang, ja, sie streiten sogar um die bestmögliche oder glaubhafteste Lösung und treiben sich so gegenseitig rasant in der Erzählung voran. Am Ende gibt es einen Plot, der durchaus logisch erscheint, allerdings, wie die ganze Geschichte, Fiktion ist. Es lässt sich nicht verhehlen, dass das Konstrukt Schwächen aufweist. Dennoch ist die Fiktion gelungen und eine gelungene Fiktion zeichnet sich dadurch aus, dass sie genau so durchaus Realität hätte sein können. In einem Interview, abgedruckt im Programmheft zur Inszenierung, wird deutlich, dass sich die Autorin sehr gewissenhaft mit der Materie beschäftigt hat.

Maya Arad Yasur hat in Amsterdam Dramaturgie studiert und in der Stadt gelebt. Aus dem Text geht hervor, dass sie die Stadt wirklich kennengelernt hat und um die Mentalität ihrer Bewohner und deren politische Anschauungen weiß. Amsterdam und die ganze Niederlande lebten bis 1995 in der unerschütterlichen Vorstellung, dass sie ein leuchtendes moralisches Vorbild in Bezug auf Liberalität, Demokratie und Weltoffenheit seien. Doch dann mussten die Soldaten der niederländischen Blauhelmeinheit, die in Srebrenica während des serbischen Völkermordes stationiert waren, vor der Zweiten Kammer in Den Haag Tacheles reden und mit der Unschuld der Niederlande war es vorbei. Das Land war geradezu traumatisiert. Doch das Sündenregister war älter und keineswegs unbedeutend. Unter der Hand wurde immer wieder von Verstrickungen des Königshauses (Prinz Bernhard) mit den Nazis während des Dritten Reichs, insbesondere mit der Reiter SA gemunkelt. Selbst wissenschaftliche Belege wurden beigebracht. Doch, um es mit Morgenstern zu sagen: „Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“

  Amsterdam  
 

Philipp Lind, Jonathan Hutter , Nina Steils

© Gabriela Neeb

 

Maya Arad Yasur ist mit ihrem Text auf der Suche nach Antworten, beispielsweise, wie es möglich war, in einem Land, das durchaus heftigen Widerstand leistete, 75 % der Juden problemlos gefangen zu setzten und der Vernichtung zuzuführen. Ihre Antwort: „Ambtenaar Mentaliteit“ – Beamtenmentalität. Die Tatsache, dass es diese Mentalität in wohl allen Ländern gibt, entschuldigt nichts. Es liegt immerhin die Vermutung nahe, dass die Niederländer, wie die Deutschen auch, diesbezüglich musterhaft sind. Im selben Jahr, als die Niederlande öffentlich ihre Unschuld wegen Srebrenica verloren, berichtete das Deutsche Fernsehen von einem deutschen Skandal. Es stellte sich heraus, dass Deutschland eine große Menge Renten an Bewohner des Baltikums zahlt, die als Mitglieder der deutschen Wehrmacht unbeschreibliche Gräueltaten an ihren Mitmenschen begangen hatten. Die Opfer indes waren in ihrem jahrzehntelangen Kampf um Abfindungen oder Wiedergutmachungen leer ausgegangen. Die Reaktion aus den Niederlanden auf diese Sendung war verblüffend. Bereits am nächsten Tag gingen im deutschen Auswärtigen Amt eine Vielzahl von Anfragen von Niederländischen Staatsbürgern ein, die ebenfalls Rentenansprüche geltend machen wollten, weil sie mit den Nazis kollaboriert und unter ihnen gedient hatten. Soviel zum Thema „Beamtenmentalität“.

Die 1989 in Israel geborene und dort aufgewachsene Regisseurin Sapir Heller brachte Maya Arad Yasurs Werk nun in deutschsprachiger Erstaufführung auf die Kleine Bühne des Münchner Volkstheaters. Für das einhundertminütige Spiel hatte Bühnenbildnerin Anna van Leen, die auch für die Kostüme verantwortlich zeigte, eine bewegliche, typisch beleuchtete Brücke auf die Bühne gebracht, die sowohl die Stadt Amsterdam trefflich charakterisierte, als auch als Wohnraum oder sogar als gynäkologischer Stuhl verwendet werden konnte. Die drei Darsteller Nina Steils, Jonathan Hutter und Philipp Lind spielten mit Verve und äußerster Präzision. Höchst lobenswert! Dabei verlangte ihnen die Regie nicht nur einen komplizierten, weil sprunghaften und nicht immer einem roten Faden folgenden Text ab, sondern auch artistische Einlagen. Die Spiellust war den Dreien anzusehen und die beflügelte auch das Publikum, durch eine Geschichte zu gehen, die zutiefst düster und bedrückend war. Sapir Heller überzeugte mit ihren szenischen Lösungen und mit der Führung ihrer Schauspieler von der ersten bis zur letzten Sekunde.

Dass die Inszenierung in keinem Moment in ein depressives Lamento abglitt, war zum einen der gewitzten musikalischen Begleitung durch Kim Ramona Ranalter zu danken. Andererseits erlaubte der Text, also die Sprachgestaltung der Autorin sehr komische Momente. Und hier kann man von einem besonderen Wert des Stückes sprechen, der heute recht selten geworden ist. Maya Arad Yasur ging völlig vorurteilsfrei an die Geschichte heran und erlaubte sich politische Unkorrektheiten in alle Richtungen, so dass sie einander zwangsläufig wieder aufhoben. Auf sehr erfrischende und lebendige Weise polterte sie durch die weltanschauliche Glasmenagerie, in der vor Korrektheit und Respekt längst alles zu erstarren beginnt und aus der das Leben zunehmend ausgesperrt wird.

Das ist eine Stimme, der man eine große Öffentlichkeit wünscht, denn sie ist bei aller Direktheit nicht ordinär oder beleidigend. Respekt und Rücksichtnahme werden, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, schon lange von Demagogen und Altvorderen als geistige Zuchtruten verwendet. Maya Arad Yasur und Sapir Heller haben die Servietten beiseitegelegt und sind gleich zum Hauptgang gekommen. Schmackhaft war es nicht immer, doch der Appetit auf Wahrheiten, mögen sie auch noch so unbequem sein, wurde ohne Frage bedient. Das erstaunlichste dabei: Es war eine rein fiktive Geschichte, die zahllose Wendungen nahm und auch ganz anders hätte zu Ende gehen können. Dass Jan zum Schluss seinen Jenever trank, war unbestritten ein starkes Ende.

Wolf Banitzki


Amsterdam (DEA)

von Maya Arad Yasur

Mit: Nina Steils, Jonathan Hutter, Philipp Lind

Regie: Sapir Heller