Volkstheater  Warten auf Godot von Samuel Beckett


 

Ein Quäntchen zu viel Regie

Kaum ein Name hat die Theaterwelt so erregt, wie der Name Godot. Man möchte meinen, die Glückseligkeit hänge davon ab, herauszufinden, welche Bedeutung dieser Name hat. Inzwischen hat man sich darauf geeinigt, dass Beckett es tunlichst vermied, diese Frage zu beantworten, denn er wollte, dass „möglichst viele Geschichten in Umlauf gesetzt werden (…) je mehr es davon gibt, desto mehr Spaß macht mir das.“ Dabei ist es müßig, es um jeden Preis herauszubekommen. Immerhin hat sich Beckett dazu geäußert und wer etwas von der Arbeit eines Schriftstellers oder Dramatikers versteht, der weiß, dass es selten nur einen Inspirationsquell für etwas gibt. So beantwortete Beckett diese Frage, gestellt von Roger Blin, der die Uraufführung besorgte: ihm hätte sich der Name aufgedrängt im Zusammenhang mit dem Argot-Wort für Stiefel: „godillot, godasse“, denn schließlich spielten Stiefel ein bedeutende Rolle im Stück. Die zweithäufigste Geschichte aus seinem Mund besagt, dass er während der Tour de France an einer Straßenecke eine Menge Leute versammelt sah und sich erkundigte, was sie dort täten. Die Antwort: „Nous attendons Godot“. Sie warteten auf Godot. Das war der Name für den ältesten und erfahrensten Radfahrer. Alle anderen waren bereits vorbeigekommen, nur Godot noch nicht.

Es ist völlig bedeutungslos, wer Godot eigentlich ist, denn er kommt nicht. Es geht nur um das Warten. Das ist der Plot der Geschichte und somit sind die Figuren in ihrer Existenz auf sich selbst zurückgeworfen, eine Schlüsselaussage des Existenzialismus Camusscher Prägung, der seinerzeit umging wie eine Seuche und beispielsweise in Osteuropa, besonders in Polen, Selbstmordwellen auslöste. Man beachte, wie oft Wladimir und Estragon ihren Selbstmord in Betracht ziehen! Es ist in der Tat müßig, nach einer versteckten Botschaft zu suchen. Die Botschaft ist: Warten auf Godot, der nicht kommt. Und das ist beileibe keine banale Botschaft.

Vergegenwärtigt man sich einmal die Situation der Intellektuellen unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, die bis dato schlimmste Katastrophe von Menschenhand, kann man eine allgemeine geistige Paralyse konstatieren. Die Intellektuellen mussten sich ihr eigenes Scheitern eingestehen, angesichts der Vernunftlosigkeit der Zeit, manche mussten sich sogar eingestehen, kollaboriert zu haben. Es ging eine panische Angst um, neue politische Theorien oder Philosophien zu entwickeln, denn man hatte am eigenen Leib erfahren, wie schnell und gewaltig man irren kann. Alle Welt, auch die deutsche Kunst- und Denkerszene hielt still und wartete auf eine Erlösung (oder auch auf einen Erlöser), die ihnen wieder Wege aufzeichnete, die gangbar waren. Doch das geschah nicht. Es sind genau solche Zustände, die Stücke wie „Warten auf Godot“ inspirierten. Ideen werden figürlich, damit die Ideen, hier sind es die fehlenden Ideen, fassbar werden. Es gibt nichts dahinter, was man verstehen kann. Daher warnten die Autoren des Theaters des Absurden vor Interpretationen. Es verbirgt sich selten mehr als ein allgemeines Gefühl der Zeit dahinter. Beckett: „Ich habe gemeint, was ich sagte.“

Es ist ein Zug unserer Zeit, möglichst spektakuläre Erklärungen zu finden, und so gibt es eine neue Theorie, die besagt, Wladimir und Estragon waren zwei Juden, die an der Grenze zum unbesetzten Teil Frankreichs auf ihren Schleuser warteten, der sie in Sicherheit bringen sollte. Am besten, man vergisst das alles und versucht, das Werk zu genießen, soweit das möglich ist. Beckett ging es häufig mehr um Formen, als um die Botschaft, denn in der Form, und das wird häufig vernachlässigt, ist schon eine Botschaft enthalten. „Warten auf Godot“, in nicht einmal fünf Monaten verfasst, hatte Beckett „zur Entspannung geschrieben, um von der scheußlichen Prosa, die ich damals schrieb“ und um „von der Wildheit und Regellosigkeit“ der Romane „wegzukommen“. Es ist wichtig zu wissen, dass Beckett über keinerlei Erfahrungen mit dem Schreiben von Dramatik verfügte. Er begriff den Vorgang wie ein Schachspiel, bei dem es darum ging, Züge zu entwickeln oder vorauszuahnen. Das heißt, Beckett hatte eine sehr genaue Vorstellung von einer ureigenen Form.

Es ist bekannt, dass Beckett sehr heftig auf freie Interpretationen bei den Inszenierungen seiner Stücke reagierte. Der Hintergrund war keine ausgeprägte Eitelkeit, sich gegen andere künstlerische Komponenten zu wehren, sondern die Tatsache, dass Becketts Stücke nur dann gelingen konnten, wenn man sich strikt an die Vorgaben des Autors hielt. Gewagte These, wird mancher vielleicht sagen, doch den Beweis dafür haben zwei Theater in München im vergangenen Jahr geliefert. Gemeint ist die Inszenierung von „Das letzte Band“ im März 2018 am Theater Viel Lärm um Nichts (Regie: Matthias Grundig) mit Andreas Seyferth in der Hauptrolle und die Inszenierung von „Endspiel“ im November 2018 am Residenztheater (Regie: Anne Lenk) mit Oliver Nägele und Franz Pätzold. Beide Inszenierungen folgten peinlich genau den Vorgaben Becketts und beide Inszenierungen waren exemplarisch. Becketts Stücke sind wie fertige Bilder, genial stimmig in sich und zeitlos gültig. Jeder Versuch, zu aktualisieren, zu extemporieren, zu unterhalten, zerstört das Stück. Kein Mensch kommt auf die Idee, einem Bild eines großen Meisters einen gefälligeren, unterhaltsameren und zeitgemäßeren Hintergrund geben zu wollen. Nur wenn man das begreift, wird man Beckett gerecht und vor allem grandioses Theater erleben zu können.

  Warten auf Godot  
 

Silas Breiding, Jonathan Hutter, Jonathan Müller, Jakob Geßner

© Gabriela Neeb

 

Regisseur Nicolas Charaux, zuletzt begeisterte er mit einer fantastischen Inszenierung von Kafkas „Das Schloss“, brachte nun „Warten auf Godot“ in einer zweieinhalbstündigen Inszenierung auf die Bühne des Volkstheaters. Inhalt der Geschichte: Wladimir und Estragon haben an einer Landstraße an einer Stelle, wo sich ein Baum und ein Stein befindet, eine Verabredung mit einem gewissen Godot. Ihre Unterhaltung schwankt zwischen Hoffnung und Verzweiflung, denn Godot kommt nicht. Indes kommt ein gewisser Pozzo mit seinem Sklaven Lucky vorbei. Im ersten Akt tritt Pozzo herrisch und sogar barbarisch auf, im zweiten ist er wegen einer Erblindung hilflos. In beiden Akten tritt ein Junge auf, um zu vermelden, dass Herr Godot erst am nächsten Tag kommen würde. Der Baum, der im ersten Akt völlig kahl ist, treibt im zweiten Akt Blätter, jedoch nicht „um Hoffnung oder Erleuchtung zu zeigen, sondern nur, um das Vergehen der Zeit anzudeuten“, wie Beckett selbst betonte. Am Ende beider Akte stehen sie ratlos da, fordern sich gegenseitig zum Gehen auf und tun es doch nicht.

Nicolas Charaux bemühte sich, dem Stück gerecht zu werden und nahm sich seinerseits sehr zurück. Und doch muss man sagen, er tat es nicht in ausreichendem Maße. Es waren nur Kleinigkeiten wie das Spiel einer Harmonika, das zu Kastagnetten-Rhythmen ausklang. Das war putzig anzuschauen und zu -hören, hatte aber nichts mit dem Stück zu tun. Auch Momente, in denen Lippenspiele betrieben wurde oder Szenen aus Blickkontakten waren Nicolas Charaux und nicht Samuel Beckett. Man kann nur spekulieren, warum der Regisseur diese Attitüden einbaute. Es drängt sich jedoch die Vermutung auf, dass er dem Text nicht wirklich vertraute und dass diese Szenen, die keiner zusätzlichen Wahrheitsfindung dienten, ein Versuch war, dem Publikum die knapp zweieinhalb stündige „Tortur des Wartens“ erträglicher zu gestalten. Das aber wäre eine Todsünde, denn dieser Text hat aus eigener Kraft Bestand und besitzt für jedes Publikum eine universelle Bedeutung. Und unterhaltsam ist er allemal. Wenn man sich auf die Stichometrie, auf das Ping-Pong der Dialoge einlässt und sie bis „zum Äußersten treibt, dann kommt Lachen“. Der Versuch, Verbindlichkeiten zu den Figuren und der Figuren untereinander herzustellen, entsprach überhaupt nicht den Intentionen Becketts. Der betonte nämlich, dass „Warten auf Godot“ ein Stück ist, das bestrebt sei, sich jeder Festlegung zu entziehen. Die ganze Aufmerksamkeit solle folglich dem Text gelten.

Auch entsprachen die Darsteller, die ihre Sache wacker, engagiert und kompetent betrieben, nicht den Vorstellungen, die man seit der Uraufführung und nach der Lektüre des Dramas von ihnen hat. Jonathan Müller (Estragon) und Silas Breiding (Wladimir) sind einfach zu dynamisch, zu agil, zu kraftvoll, als dass man ihnen ihren Lebensüberdruss oder die permanente Müdigkeit tatsächlich abkaufen könnte. Es ist auch schade, dass Nicolas Charaux auf die Hut-Tausch-Nummer verzichtete, die den Vaudeville-Charakter des Stücks unterstreicht. Wahrscheinlich erschien es ihm nicht zeitgemäß oder verschlissen, weil die Vorstellungen von Komik heute anders sind als zu Becketts Zeiten. Das Problem ist, wie bereits angedeutet, dass Becketts Werk niemals „zeitgemäß“ war oder es sein könnte. Ebenso wenig war es eine gute Idee, den Baum zu abstrahieren und ihm im zweiten Teil vier grüne Würfel als sprießende Krone anzuheften. (Bühne Pia Greven) Der Baum soll nicht frühlingshaft grün sein, sondern, wie bereits erwähnt, das Vergehen der Zeit bedeuten. Beckett forderte einige wenige Blätter. Am stimmigsten war die Figur des Lucky, denn Jonathan Hutter hatte nicht mehr und nicht weniger zu transportieren als Becketts Text. Auch Jakob Geßner als Pozzo blieb im Rahmen der Beckettschen Vorgaben und donnerte sich verachtungsvoll und brutal, später dann orientierungslos durch die Szene.

Es hätte eine wirklich gelungene Sache sein können, wenn nicht ein Quäntchen zu viel Nicolas Charaux darin gewesen wäre. Er hat mit seinen Einsprengseln den zwingenden Fluss des Beckettschen Stückes unterbrochen und somit Längen erzeugt. Und wer nicht versteht, was damit gemeint ist, dem sei dringend angeraten, sich im Residenztheater Anne Lenks „Endspiel“ anzuschauen, solange es noch läuft. Der kleine, feine Unterschied ist unübersehbar. Nur wer das Stück (oder die Stücke) von Beckett nicht in Gänze verstanden und erfühlt hat, mangelt es an Vertrauen, es so auf die Bühne zu bringen, wie der Autor es sich vorstellte. Letztlich ist es immer eine Restangst vor der Ablehnung des Publikums, die Regisseure einknicken lassen und sie zu überflüssigem Beiwerk verführen. Erfolg bedeutet nicht immer, dem Publikum gefallen zu haben. Derartiger Erfolg kann durchaus suspekt sein, wie die Uraufführung und die Reaktionen darauf bewiesen. Theater sollte das Publikum immer ein wenig überfordern, damit es sich entwickelt.

Martin Esslin schrieb über die Uraufführung: „Schrie es nicht zum Himmel, dass die Leute aufgefordert wurden, sich ein Stück anzusehen, das nichts anderes als ein Riesenjux sein konnte, ein Stück, in dem nichts, aber auch gar nichts passierte! Die Leute gingen hin, um sich das Stück anzusehen, bloß um diese skandalöse Unverschämtheit mit eigenen Augen gesehen zu haben und bei der nächsten Party sagen zu können, sie seien doch tatsächlich eines der Opfer dieses Frevels gewesen.“ (Martin Esslin: „Is it All Gloom and Doom?“, The New York Times, 24. September 1967.)

Genau betrachtet, hat sich Becketts „Warten auf Godot“ noch immer nicht umfänglich durchgesetzt. Allerdings hat sich der Ruf des Stückes soweit gefestigt, dass es von den Spielplänen nicht mehr wegzudenken ist. Es besteht Hoffnung, anders als im Stück.

Wolf Banitzki


Warten auf Godot

von Samuel Beckett
Deutsch von Elmar Tophoven

Mit: Jonathan Müller, Silas Breiding, Jonathan Hutter, Jakob Geßner, Julian Engel/ Francesco Wenz

Regie: Nicolas Charaux