Volkstheater Leonce und Lena von Georg Büchner



Kaugummi raus!

Behauptung: „Leonce und Lena“ ist ein Lustspiel! Warum auch nicht. Leonce Prinz von Popo ist der bezaubernden Lena, Prinzessin von Pipi, anverlobt und die Hochzeit ist ausgerichtet. Beide brechen in Panik aus, Lena auf (ein wenig klischeehafte) weibliche Art: „ (...)Man geht ja so einsam und tastet nach einer Hand, die einen hielte, bis die Leichenfrau die Hände auseinander nähme und sie jedem über der Brust faltete. Aber warum schlägt man einen Nagel durch zwei Hände, die sich nicht suchten?“ Leonce hingegen leidet (männlich) tiefer, nämlich an der Welt schlechthin: „Es krassiert ein entsetzlicher Müßiggang. (...)Was die Leute nicht alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile, und - und das ist der Humor davon - alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken, warum, und meinen Gott weiß was dazu.“

Beide begeben sich gemeinsam mit Bonvivant und Gouvernant(e) auf die Flucht. Aber: „Auf Ehre, Prinz, die Welt ist doch ein ungeheuer weitläufiges Gebäude“, bemerkt Valerio keuchend.  Immerhin ist es nicht weitläufig genug, als dass sich darin die beiden, Leonce und Lena, nicht begegnen können. (Das macht Dichtung so wunderbar!) Leonce macht ihr Avancen, Lena lehnt ab und Leonce beabsichtigt, sich zu ertränken. Was ist schließlich in einer Komödie das Naheliegendste? Sie heiraten. So finden sich zwei Menschen, die, ohne einander zu kennen, voreinander davon liefen. Das ist feinster Komödienstoff.

Als Büchner dieses Stück schrieb, im Jahr 1836, war er zwanzig Jahre jung und ein Alterspessimist. Sein Glaube an eine Humanisierung der deutschen Verhältnisse war dahin. Deutschland, gleichgesetzt mit Pipi und Popo, war für Büchner nur noch eine Bedürfnisanstalt. Unter diesem Aspekt betrachtet ist „Leonce und Lena“ ein Stück des Absurden, dass letztlich in Absurditäten und die Grenzen deutschen Seins und Denkens zurückfällt, komisch zwar, aber auch sarkastisch bis zynisch und bei näherer Betrachtung nicht ganz frei von Denunziation.


Xenia Tiling, Jean-Luc Bubert, Nico Holonics, Robin Sondermann

© Arno Declair


Büchners größte Verbitterung wird deutlich im 3. Akt, 2. Szene, wenn der Schulmeister das Volk auf die bevorstehende Hochzeit einstimmt: „Seid standhaft! Kratzt euch nicht hinter den Ohren und schneuzt euch die Nase nicht, solang das hohe Paar vorbeifährt, und zeigt die gehörige Rührung, oder es werden rührende Mittel gebraucht werden. Erkennt, was man für euch tut: man hat euch grade so gestellt, daß der Wind von der Küche über euch geht und ihr auch einmal in eurem Leben einen Braten riecht.“

Diese Szene erlebte der Zuschauer im Volkstheater nicht. Vermutlich sah Regisseurin Hannah Rudolph in dieser sozialen Schicht nicht unbedingt die Gruppe Menschen, für die es Partei zu ergreifen galt. Immerhin, die Müßiggänger blieben und die Formen des Müßiggangs haben sich ebenso wenig verändert. Anstatt gesellschaftlich notwendige Tätigkeit zu leisten, beschäftigt man sich, um dem Verdruss, hervorgerufen durch Inhaltslosigkeit, zu entgehen. In diesem Sinne ist das „melancholische“ Lustspiel brandaktuell und auch brandgefährlich.

Es ist schwer, sich diesem Text zu stellen und nicht in Begeisterung zu geraten. Das Genialische an Büchners Werk ist seit mehr als 150 Jahren die Universalität und der epocheübergreifende Wahrheitsgehalt. Was konnte die Volkstheaterinszenierung davon transportieren und bei alle dem ein Lustspiel daraus zu machen? Der überwiegende Teil der dramatischen Fassung wurde vor der geschlossenen Bühne gespielt. Kaum mehr als einen Meter Vorderbühne stand den Akteuren zur Verfügung, Ausflüge ins Publikum zuzüglich. Das Anliegen war überdeutlich. Das Bühnenbild von Steffen Schmerse nahm Büchners unmittelbaren Blick auf.  Er begrenzte das durch Kleinstaaterei auf das erbärmlichste Maß zusammengeschrumpfte Reich mit einer einfachen Wand – der vierten Wand.

Heute haben wird ein grenzenloses Europa, könnte man entgegenhalten. Aber das ist nicht richtig, denn die Grenzen in den Köpfen existieren weiter und sie werden sehr schnell sichtbar, wenn Interessenskonflikte entstehen. Erst als die beiden Paare die Flucht ergriffen, klappte die Bühnenwand um und gab ein Rondell frei, das die Welt zu einer unendlichen werden ließ. Als Leonce und Lena, endlich ehelich vereint, erkennen mussten, dass sie genau in dem Leben angelangt waren, vor dem sie auf der Flucht waren, wurde die Wand wieder aufgerichtet und der Status quo war wieder hergestellt.

Die beiden wichtigsten Figuren im Stück waren Leonce, ein radikal-melancholischer Jean Luc Bubert, und Valerio, ein windschlüpfrig-pragmatischer Robin Sondermann. Sie unternahmen immer wieder Ausflüge in die Philosophie und scheiterten auf absurdeste (geistige) Weise. Dabei setzten beide Darsteller alle nur denkbaren Ansätze auch körperlich um, was über weite Strecken zu sehr dynamischen Spiel führte. Das lobenswerte daran aber war, dass kein artikulierter Gedanke unterging. Wenn der Hofstaat in uniformer weißer Kleidung aufmarschierte, kontrastierte er hauptsächlich die Lebendigkeit der Protagonisten. Thomas Kylau gab einen knatternden, zerfahrenen, dementen (Der Text lässt das zu!) König Peter. Seine Figur gewann zu keiner Zeit wirkliche menschliche Züge. Im Gegensatz dazu Xenia Tilling, deren Prinzessin Lena zwischen romantischer Selbstsuche und moralischer Selbstbevormundung eine Menge Farben entfaltete. Ihr zur Seite stand ein verhalten-vorsichtig agierender Nico Holonics als Gouvernant. Er hatte einen Ausflug in ein anderes Stück. Regisseurin Rudolph gab ihm den Text der Großmutter aus Woyzeck, Szene: Straße. „Es war einmal eine armes Kind und hatt kein Vater und keine Mutter, war alles tot, ...“ Dieser Text, Nico Holonics ließ ihn durch ganz unaufdringliches Spiel zu bedrückender Größe auferstehen, erwies sich als Büchners Credo für das ganze Stück. Er war gleichsam Ausdruck der düsteren existenziellen Grundstimmung, die Hanna Rudolph auf die Bühne brachte. Gegen diesen Text ist Camus „Der Fremde“ Bettlektüre. Es gibt letztlich keinen wirklichen Unterschied zwischen Totsein im Überfluss und Totsein im Elend.

Ein Darsteller darf nicht vergessen werden. Stefan Ruppe spielte den Hofmeister im Reich Popo. Die Figur des Mannes, der im Grunde permanent versucht, den zum Einsturz neigenden Geist mittels Etikette aufrecht zu erhalten, ist eigentlich das Rückgrad der maroden Gesellschaft. Ruppe spielte bissig und verzweifelt, riss sich am Ende das Toupet vom Kopf und resignierte sehr überzeugend.

Man nennt das Genre der Komödien und Lustspiele auch das „leichte“. „Leonce und Lena“ gehört unbestritten in dieses Genre, ist aber alles andere als leicht. Mutig formuliert könnte man sagen, die Inszenierung ist bitterster Existenzialismus als melancholisches Lustspiel. Sie verlangte dem Zuschauer einiges an Konzentrationsvermögen ab, wenn er die Intelligenz der Sprache genießen möchte. Unterm Strich ist es aber ein lohnenswerter Theaterabend, in den man jedoch nicht unvorbereitet gehen sollte. Die Lektüre vorab garantiert eine deutliche Steigerung des Genusses.

Nun bleibt noch zu erklären, wie es zum Titel der Kritik kommt. Einige Schauspieler mussten von Beginn an Kaugummi kauen, ein Regieeinfall, der ziemlich pubertär war und keine andere Wirkung hatte als die Verärgerung des Publikums. Prompt erscholl die Stimme einer Zuschauerin: Kaugummi raus! Man gehorchte. Es war nicht die schlechteste Szene.

Wolf Banitzki

 

 


Leonce und Lena

von Georg Büchner

Jean-Luc Bubert, Nico Holonics, Thomas Kylau, Kristina Pauls, Stefan Ruppe, Robin Sondermann, Xenia Tiling

Regie: Hanna Rudolph