Volkstheater Drei Schwestern von Anton Tschechow




Etikettenschwindel

Das Drama „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow hat seit seiner Uraufführung am 31. Januar 1901 unaufhaltsam die Bühnen der Welt erobert. Die von Stanislawski besorgte Inszenierung am Moskauer Künstlertheater war in ihrer Lesart durchaus universell und zeitlos: „Es zeigt sich, dass sie (die Menschen Tschechows) ganz und gar nicht nur Schwermut und Langeweile mit sich herumschleppen, im Gegenteil, es sind Menschen, die Fröhlichkeit, Lachen und Munterkeit suchen, die leben wollen, nicht nur vegetieren.“ So Stanislawski, der damit ganz genau die Intentionen Tschechows traf. Beide Künstler verfügten über eine besondere Sensibilität für die Zeit und die Menschen. Nebenher waren sie exzellente Analytiker und begriffen, das Russland an der Schwelle zu großen Veränderungen standen. So sind die Menschen in Tschechows Stücken Spiegelungen einer Gesellschaft, die in Stagnation gefallen war. Sie handelten von Menschen, die einen Endpunkt erreicht hatten, den sie scheinbar aus eigener Kraft und mit eigenem Willen nicht zu überwinden vermochten. Tschechows Stücke sind bei näherer Betrachtung gute Begründungen für die russische Revolution. Es geschieht in ihnen wenig an Handlung, dafür aber um so mehr an Psychologie.

Im aus dem Jahr 1900 stammenden Drama in vier Akten dreht sich alles um die Schwestern Olga, Mascha, Irina und ihren Bruder Andrej. Sie sitzen seit elf Jahren in einer Provinzstadt fest. Ihr Vater war als Brigadegeneral von Moskau in die Provinz versetzt worden. Ihr Leben ist trist, abwechselungsarm und unaufgeregt, was die Damen zermürbt und an ihre Grenzen gebracht hat. Ihre Hoffnungen richteten sich die ganze Zeit über auf den Bruder Andrej, dem man eine große Karriere als Wissenschaftler zutraute und der sie zurückführen würde in das geliebt, märchenhaft verklärte Moskau. Andrej indes ist ein kleinbürgerlicher Spießer geworden, dessen beschränkte Frau Natalja sich selbst genügt. Der Bruder verspielt den Besitz der Familie und damit auch den der Schwestern, die sich doch immerhin selbst ernähren können. Olga ist Lehrerin am Mädchengymnasium. Mascha ist mit dem langweiligen Gymnasiallehrer Kulygin verheiratet und Irina, bislang ohne Beruf, arbeitet als Telefonistin.

Einziger Trost, den der Ort zu bieten hat, ist das Regiment, zu dem die Generalstöchter noch immer Kontakt haben. Mascha liebt den Batteriechef Oberstleutnant Werschinin, dessen Frau regelmäßig Selbstmord zu begehen versucht. Irina, deren Glaube an eine wirkliche längst Zukunft geschwunden ist, entschließt sich, dem Werben des Offiziers Baron Tusenbach nachzugeben und ihn zu heiraten. Doch dazu kommt es nicht, da Tusenbach in einem Duell fällt. Zuletzt, es hatte sich als Gerücht angedeutet und wurde schließlich Gewissheit, wird auch noch das Regiment abgezogen und verlegt. Die Isolation der Schwestern ist nun vollkommen und ausweglos. Irina resümiert unter den Klängen der Marschmusik der abziehenden Soldaten über ihr Leid und die vermeintliche Sinnlosigkeit ihres Daseins: „Es wird eine Zeit kommen, da alle klar sehen werden, da es keine Geheimnisse mehr geben wird. Vorläufig aber heißt es arbeiten, nur arbeiten!“

„Drei Schwestern“ ist ein sehr atmosphärisches Stück, dessen Sprache (wenn sie denn die Sprache Tschechows ist) hinreichend genügt, die Welt der vergehenden Belle Époque zu beschwören. So grandios Tschechows Stücke auch sein mögen, so groß ist auch das Risiko des Scheiterns, wenn man zu grob Hand anlegt an das feine psychologische Gespinst. Was in der Inszenierung von Thomas Dannemann am Volkstheater nun gänzlich fehlte, war die dem Stück eigenen Atmosphäre. Einen entscheidenden Beitrag zu dieser „Fehlleistung“ leistete Stefan Hageneier mit seinem Bühnenbild. Es bestand aus dem Fachwerkgerüst einer größeren Gartenlaube, die fahr- und drehbar war. Die Wände des Häuschens waren mit durchsichtiger Folie bespannt, sodass der Innenraum bespielt werden konnte. Diese Baumarktlösung, die am Ende von den Schauspielern auch noch demontiert wurde, hatte den Charme eines Ikeamöbels. Und um die Desillusion perfekt zu machen, wurde die erste Zuschauerreihe zur Garderobe der Darsteller umgewandelt. So ging man nicht von der Gasse auf oder in die Gasse ab, sondern über eine hölzerne Treppe ins Publikum.

dreischwestern

Mara Widmann, Pascal Fligg, Lutz Salzmann, Max Wagner

© Arno Declair


Auch am Text (Übersetzung Peter Urban) hatte Regisseur Dannemann kräftig Hand angelegt. Heraus kamen Sprachtorsi, die selten poetisch, dafür oft rüde, die selten ausgewogen, dafür oft alltagssprachlich bis rotzig waren. Es wurde auch gekalauert, egal ob es sich anbot oder nicht. Und um das recht deutlich bewerkstelligen zu können, erhielt die Rolle des Militärarztes Iwan Romanowitsch Tschebutykin großen Raum. Lutz Salzmann ließ es denn auch richtig krachen, torkelte besoffen oder in vermeintlicher Amnesie durch Raum und Zeit, ließ die Hosen herunter und verspritzte auch schon mal Urin aus dem Auffangbeutel seiner katheterisierten Blase. Das sorgte für Heiterkeit. Die drei Schwestern hingegen waren sichtlich bemüht, ihren Rollen Ernsthaftigkeit zu verleihen. Angesichts dessen, was möglich gewesen wäre mit dem Text von Tschechow, schnitten alle drei recht mager ab. Dabei hätten sie es sicher umfänglich leisten können, doch es schien, als wollte man alles andere aufkommen lassen, nur kein differenziertes Bild jeder einzelnen Schwester. Mara Widmanns Olga definierte sich über die Adjektive, die ihr in den verkürzten, holzschnittartigen Texten gegeben waren. Xenia Tilling versuchte ihrem Innern einen gestischen Ausdruck zu verleihen und füllte den Raum sehr häufig mit melancholischen Posen. Lenja Schulze war die einzige der Schwestern, der genügend Raum und Text gelassen wurde, ihrer Irina eine menschliche Gestalt zu verleihen. Schade, denn den drei bezaubernden Frauen hätten wesentlich mehr leisten können.

Die männlichen Darsteller überzeugten hingegen mit Aktionismus, der allerdings nicht selten die inneren Vorgänge wenig überzeugend konterkarierten. Allen voran Max Wagners Soljony, der sich seiner Angebeteten Irina auch schon mal gewaltsam näherte. Er verkörperte die tickende Bobe, die den Baron Tusenbach ins Verderben stürzten sollte. Pascal Fligg spielte den Baron sehr zurückgenommen. Er entpuppte sich als physisch feiger Mensch, der aufrichtig liebte und sich dabei seiner Unattraktivität bewusst war. Fliggs Tusenbach ging nur mit geringen Beschädigungen aus dem Spiel hervor. Ebenso Jean-Luc Bubert, der sich auf den Habitus eines Oberstleutnants retten konnte. Sein Alexander Ignatjewitsch Werschinin ließ sich allerdings auch von gar nichts wirklich anfechten und so war sein Abschied von den Schwester mehr als nüchtern. Natascha, wasserstoffblond bis ins Mark von Christina Pauls gespielt, wurde hingegen reichlich denunziert. Ihre Rolle war auf die ständig mit dem Handy telefonierende, fremdgehende Mutter reduziert, die eine Reduktion in sich darstellte und die sich nur durch vordergründige Dümmlichkeit profilieren konnte. Oliver Möller spielte den Bruder Andrej, selbstquälerisch und ebenfalls mit großem körperlichen Aufwand. Bei ihm hatte man allerdings das Gefühl, er sei ein Fremdkörper in dem kleinen Universum, den man nur sehr ungern hervorlockte. Stefan Ruppes Lehrer Kulygin (Maschas Gatte) war eine Karikatur auf den heutigen Lehrer, der, ökologisch bewusst mit dem Fahrrad fährt und dabei vorschriftsmäßig den Schutzhelm trägt.

Keine der Figuren erlangte auch nur annähernd das Format, das Tschechow angedacht hatte. Vielmehr drängte sich der Verdacht auf, dass Tschechow wohl als Stichwortgeber tauge, darüber hinaus allerdings als lästig empfunden wurde. Nur keine tragenden Gefühle, nur keine tieferen Einsichten, nur keine Imagination des wahren Dramas, wie es geschrieben steht. Tschechows Werk wurde zum Supermarkt für szenische Grundversorgung degradiert. Heraus kam eine „hippe“ Geschichte, die sich beim Publikum peinlichst anbiederte und auf der Tschechow stand. Doch es war kein Tschechow drin. Schade, denn  wieder einmal werden viele junge Zuschauer, die noch keine Erfahrungen mit Tschechow gemacht haben, glauben, sie hätten „Drei Schwestern“ von Tschechow gesehen. Doch es war ein Etikettenschwindel.


Wolf Banitzki


 

 


Drei Schwestern

von Anton Tschechow

Jean-Luc Bubert, Pascal Fligg, Oliver Möller, Kristina Pauls, Stefan Ruppe, Lenja Schultze, Xenia Tiling, Max Wagner, Mara Widmann, Lutz Salzmann

Regie: Thomas Dannemann