Marstall Balkan macht frei von Oliver Frljić


 

 

Selbstauslöschung als Theaterereignis

Ein Tisch, vier Männer. Drei von ihnen hatten Aktentaschen vor sich liegen. Diese drei Männer, es sind Deutsche, befragten den vierten. Sein Name ist Oliver Frljić, Regisseur und Intendant. Er wurde eingeladen, um am Residenztheater/Marstall zu inszenieren. Die Fragen, von Oliver Frljić in seinem Text zur Inszenierung niedergeschrieben, verrieten vorzugsweise Arroganz und Vorurteile – der Deutschen. Zum Beispiel, ob er glaube, dass es Tabus in der Kunst gäbe? Was er den Deutschen, die er ja gar nicht kenne, vorwerfe oder zu sagen hat? Frljić, gespielt von Franz Pätzold, antwortete nicht oder ausweichend. Schließlich zückte er eine Pistole und erschoss die Männer. Dann monologisierte Oliver Frljić, während die drei auferstandenen Männer, Leonard Hohm, Alfred Kleinheinz und Jörg Lichtenstein, Schilder aus ihren Aktentaschen holten und sie sich umhängten. Darauf waren Namen deutscher Künstler und Philosophen zu lesen: Goethe und Schiller – auch sie wurden erschossen. Adorno und Jelinek – sie wurden erschossen. Zuletzt die der fett gewordenen Klassenkampfterrier des deutschen Theaters Castorf und Pollesch – sie wurden erschossen. Auch Martin Kušej, eine Kunsthure wie die anderen auch, bekam sein Fett weg, der ist nämlich slowenischer Österreicher – kann also gar nicht mitreden.

In der nächsten Szene saßen die vier Herren, notdürftig vom Blut gereinigt, am gemeinsamen Mittagstisch und dachten laut darüber nach, was wäre, wenn die deutsche Bevölkerung zu 50%  aus Türken bestünde? Unterschiedliche Szenarien, von der Ausrottung der Türken bis hin zur Synthese mit ihnen, aufgehend in einer neuen Kultur, wurden erdacht. Dann wurden die Drei von Frljić wieder erschossen. Es folgte ein langer Monolog, in dem Franz Pätzold hemmungslose Beschimpfungen in voller Wucht über dem Publikum des Marstalls niedergehen ließ. Darin wurde es mitverantwortlich gemacht für das Elend dieser Welt, für die Leiden Frljić und des Balkans. Ihm wurden Arroganz, Vorurteile und mangelnde Empathie vorgeworfen. Es wurde beschimpft dafür, dass es Geld für die Theaterkarten ausgegeben hatte, um sich am (schicksalhaften) Leid Frljić zu weiden und es am Ende auch noch zu beklatschen. Nebenher wurden Protagonisten des Zweiten Weltkrieges, z.B. die Männer in SS-Uniformen gelobt, weil sie bereit waren, Verantwortung für die Neugestaltung der Welt zu übernehmen. Frljić bekennt sich schließlich zum Krieg, zu einem Zustand, in dem er aufgewachsen ist, weil er sich dann selbst tatsächlich spüre. Ernst Jünger wäre erigiert.

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 Alfred Kleinheinz, Franz Pätzold, Jörg Lichtenstein

© Konrad Fersterer

 

In der nächsten Szene wurde Frljić schließlich der Tortur unterzogen. Das war kein schlechter Theaterwitz. Der Zuschauer durfte mit eigenen Augen erleben, wie Waterboarding aussieht und wie es sich anfühlt. Pätzolds Qualen fanden ein Ende, als eine (inszenierte) Zuschauerin dem Spuk empört in den Arm fiel. Fazit: Erneute Beschimpfung derer, die sitzen geblieben und nicht eingeschritten waren, aber der Person Beifall klatschten, die gehandelt hatte. Armes Publikum! Wie immer es sich verhielt, es erntete Frljićs Verachtung. Doch der ruderte plötzlich zurück, als er auf dem Schoß seines Vater hockend erzählte, dass er einen Traum geträumt hatte, in dem alles das geschehen war, was das Publikum gerade über sich ergehen lassen musste. Zum erlösenden Schluss steckten die drei Männer Franz Pätzold in ein Brautkleid und bestiegen ihn nacheinander von vorne und von hinten. In einer großen Deutschlandfahne eingerollt, wurde Frljić/ Pätzold von der Bühne getragen. Stehende Ovationen von denen, die die ganze (2.) Vorstellung mit Kichern und heller Begeisterung für Frljićs „Mut“ begleitet hatten und die ganz augenscheinlich vom Balkan stammten. Etliche Zuschauer hatten während der Waterboarding-Szene den eiligen Abgang vorgezogen.

Warum diese ausführliche und alles vorwegnehmende Beschreibung des Theaterabends, wird sich der eine oder andere Leser vielleicht fragen? Ganz einfach, weil es anderes nicht zu berichten gibt. In dem ganzen messianisch-erlöserischen Konstrukt der Selbstbespiegelung und Selbstauslöschung war nicht ein einziger Satz, den es zu zitieren lohnt. Es war eine Aneinanderreihung von Tabubrüchen, von denen der einzig originelle und echte wohl die Offenlegung der Gage war, 25.000 € - mehr als Frljić erwartet hatte - und dass sie nur halb so hoch war, wie die von Castorf. Peinlich! Wie produktiv kann Theater sein, wenn es das Publikum mit Hass überzieht? Zorn wäre angebrachter gewesen, denn Zorn wohnt Vernunft inne! Und was die Tabubrüche anbelangt, bis auf das Waterboarding haben sie alle schon stattgefunden. Der nächste und ultimative Schritt wäre dann wohl, dass sich ein Darsteller auf offener Szene selbst hinrichtet, um das Publikum zu bewegen. Dann wären wir auf der Bühne endlich angekommen, wo die Realität längst ist: beim Terrorismus. Die Werbung des Residenztheaters hatte es vorab angedroht: „In seinem Münchner Debüt beschäftigt er sich mit der Auslöschung seines Selbst.“

Die Tabubrecherei, das Publikum ist ihrer längst überdrüssig, langweilt und stumpft ab. Camus bemerkte zu diesem Thema treffend: “Ich schätze eine Kunst gering, die zu schockieren bestrebt ist, weil sie nicht zu überzeugen vermag.“ Frljićs Inszenierung mag Psychoanalytiker in Euphorie versetzen, zum Thema Balkan wurde dem Münchner Publikum nichts Erhellendes zuteil. Die jüngste Geschichte Deutschlands hat es hinreichend zutage gebracht, dass der deutschen Seele nach Ausschwitz masochistische Züge innewohnen. Allein, die Täter sind perdu und im Publikum sitzen die, denen die Gnade der Nachgeborenschaft zuteilwurde. Ihnen sollte auf Augenhöhe und mit Respekt begegnet werden. Nur das kann uns zusammenbringen, um Unmenschlichkeit entgegenzutreten.  

Frljićs Inszenierung, die, bei aller mentalen Konfusion und Sprunghaftigkeit, eine respektable ästhetische Überzeugungskraft und Geschlossenheit aufweist, Oliver Frljić zeichnete für Regie, Bühne und Musik verantwortlich, wird nicht zu mehr Vernunft führen, sondern zur weiteren emotionalen Aufrüstung und Eskalation. Der Autor/Regisseur muss sich den Vorwurf gefallen lassen, emotionale Verletzungen beim Publikum bewusst in Kauf genommen zu haben. Das mag ihm (durchaus zu Recht) egal sein, weil Kunst unbestechlich und autonom bleiben muss. Allerdings ist nicht jede Form von Unbestechlichkeit und Autonomie auch Kunst. In unserer sensationsgeilen Welt, in der nur existierte, was wahrgenommen wird, mag er sich wohl in die Annalen der Theatergeschichte einschreiben können, doch die letzte und wichtigste Instanz bleibt das Publikum und das sollte man als Partner und nicht als Feind betrachten.

 

Wolf Banitzki

 


Balkan macht frei

von Oliver Frljić

Leonard Hohm, Alfred Kleinheinz, Jörg Lichtenstein, Franz Pätzold

Regie: Oliver Frljić