Residenztheater Orest von John von Düffel nach Sophokles, Aischylos, Euripides
Nach der Tat ist vor der Tat
Orest, Sohn des Agamemnon und der Klytaimnestra, erfährt am Ende seines Leidensweges Gnade vor den Menschen und den Göttern. Es steckt immerhin soviel Vernunft in den griechischen Mythen, dass der letzte Atride nicht einer Endlosschleife von Gewalt und Exzess geopfert wird. Die totale Auslöschung machte auch im Verständnis von Schicksalhaftigkeit keinen Sinn. Es war Athene, die letztlich mit ihrem Stimmstein zugunsten von Orest die Spirale der Gewalt aufhält, und somit eine menschliche Rechtsprechung ermöglicht, die sich über das Blutrecht erhebt. Dieses Blutrecht verlangte den Akteuren immer wieder grausame Morde ab. Klytaimnestra tötete ihren Ehemann Agamemnon, weil dieser die gemeinsame Tochter Iphigenie für günstigen Wind auf dem Feldzug gegen Troja geopfert hatte. Elektra forderte, unterstützt von Apollon, dass der Bruder Orest die Bluttat an dem Vater räche. Orest erschlägt die Mutter und deren Geliebten Aigisthos, der sich in das Bett und auf den Thron Agamemnons gemordet hatte. Gattenmord steht gegen Muttermord. Jeder hat seinen „guten“, weil göttlichen Grund und ein Ende ist nicht abzusehen, denn die Erinnyen fordern nun das Blut des jungen Mannes, dessen einzige Bestimmung diese Bluttat selbst zu sein schien. Nach der Tat ist vor der Tat. Was alle Beteiligten jedoch nicht wussten: Iphigenie war nicht tot. Sie lebte in Tauris im hohen Rang einer Priesterin.
John von Düffel hat sich für sein Drama bei den drei großen des 5. Jahrhunderts v.Ch. bedient: Aischylos (Die Orestie, 2. Teil: Das Totenopfer), Sophokles (Elektra) und Euripides (Orestes). Im Grunde wird bei von Düffel die Geschichte in den ersten beiden Teilen ähnlich, also mit demselben Ausgang erzählt, wie sie Stammvater Aischylos niedergelegt hatte und deren Dramaturgie auch der „Staatsdichter“ Sophokles mit archaischer Wucht und ohne kritische Brechung folgte. Das Schicksalhafte agierte dabei wie eine dämonische Urmacht über die Köpfe der Menschen hinweg. Den großen Bruch in diesem Denken vollzog Euripides, der das Theater vom kultischen abkoppelte und zu Göttern und Staat auf Abstand ging. Ein wesentlicher Effekt war die Beförderung der Kunst, weil diese aus den Fesseln des Kultes herausgelöst wurde. Rapsoden wurden somit zu Schauspielern, Heroen zu Menschen und Göttergeschehen zu Handlung.
Dieser qualitative Sprung war in David Böschs Inszenierung am Münchner Residenztheater deutlich spürbar. Während Orest und Elektra in den ersten beiden Teilen (1. Die Psychologie des Entschlusses nach „Elektra“ von Sophokles und 2. Die Archaik der Tat nach „Die Totenweihe“ von Aischylos) geradezu fremdbestimmt, selbstredend nicht ohne Zweifel, durch die Handlung getrieben wurden, erwachte ihr Selbst im 3. Teil (Der Wahnsinn danach nach Euripides „Orestes“). Sechs Tage nach der Bluttat wird Orest heftig von Erinnyen geplagt. Bei Euripides hatte allerdings schon eine psychologische Umdeutung stattgefunden und die Rachegöttinnen existieren nur in Orests Kopf. Als beide, Orest und Elektra, von den Bürgern von Argos zum Tod verurteilt werden, beschließen sie den gemeinsamen Freitod, um der Unausweichlichkeit zuvor zu kommen. In der ursprünglichen Geschichte richtete Pylades, der Gefährte von Orest, seinen Freund auf und riet ihm, Helena, die mitverantwortlich für den Untergang Trojas und den Tod vieler Griechen war, und ihren Ehemann Menelaos, der sich in Argos nicht für die angeklagten Geschwister eingesetzt hatte, um sich in den Besitz der Krone von Argos zu bringen, zu töten. Von jetzt an handelten die Geschwister selbstbestimmt.
Shenja Lacher © Andreas Pohlmann |
Falko Herolds Bühne war ein Ort, der von der Patina des Untergangs geprägt war. Die über die ganze Breite eines Bungalow reichende Fensterfront war von Schmutz überzogen und blind. Zugezogene Vorhänge schotteten zusätzlich vor den Blicken der Außenstehenden ab. Es war der Ort, an dem gemordet worden war und an dem die Königin sich Aigisthos, dem Nebenbuhler ihres Gatten, hingegeben hatte. Hinter diesen Vorhängen starb schließlich auch Klytaimnestra. Sophie von Kessel stattete diese Rolle mit viel Hintergründigkeit aus, so dass es nicht einfach war, sie leichthin zu verdammen. Ihre Argumente für den Gattenmord hielten den Vorwürfen ihrer Kinder durchaus stand. Sie waren allesamt miteinander in derselben Tragik verwoben. In der Rolle der Schwester Helena hingegen gab sie ein oberflächliches Wesen, das auf Vergessen und Verdrängen ihrer eigenen Verantwortung geeicht war. Norman Hackers Aigisthos war ein ebenso perfider Machtmensch wie Menelaos, den er im dritten Teil gab. Hacker unterschied die beiden Figuren dennoch sehr deutlich im Gestus. Diese beiden Rollen und deren Darstellung offenbarten, dass die antiken Helden zumeist alles andere als moralisch fühlende und handelnde Menschen waren. Valerie Pachner spielte die Rollen, die zwischen den Fronten angesiedelt waren, die Schwester Chrysotemis und die Tochter Helenas und Menelaos, Hermione. Ihr Opportunismus als Überlebensstrategie bezeichnete eine der zählebigsten und erfolgreichsten Lebensentwürfe.
Die Protagonisten in dem blutigen Drama waren Shenja Lacher (Orest) und Andrea Wenzl (Elektra). Unter der ausgefeilten und klugen Spielleitung von David Bösch entwickelten beide kraftvolle Figuren, die ihren Rollen mehr als gerecht wurden. Lachers Orest erfüllte sowohl physisch als auch gestisch die Anforderungen an einen antiken Helden. Dabei gelangen immer wieder auch Szenen, die die innere Verletzbarkeit und die Skrupelhaftigkeit der Figur offenbarten. Shenja Lacher ist zudem ein Darsteller, der einfallsreich Situationskomik herbeiführen kann, die gerade einem so hehren Thema die nötige menschliche Färbung verleiht und somit den antiken Heros vor Lächerlichkeit schützt. Andrea Wenzl gab eine liebende, anschmiegsame Schwester, die im nächsten Augenblick physisch unbändig, kompromisslos und aggressiv Attacken gegen ihre Feinde ritt. Menschlich wurde ihre Rolle auch, weil sie die archaische Figur des Racheengels bis hin zur punkigen Nervensäge steigerte. Allen Darstellern gebührt höchstes Lob.
Fragt man sich, warum dieses Drama in dieser Form hier und heute seinen Platz findet, ist die Antwort nicht ganz so leicht. Einen direkten Zeitbezug suchte man vergeblich. Dennoch machte der Abend Sinn, da die Welt noch immer angefüllt ist mit Katastrophen, die nur dadurch verursacht wurden und werden, weil die Akteure nicht auf der Basis von menschlicher Vernunft handeln, sondern auf der Basis archaischer oder zumindest traditioneller Gesetze. Insofern leistete das Angebot von John von Düffel in der gelungenen künstlerischen Umsetzung durch David Bösch ein Stück notwendige Aufklärung. Zu selbstverständlich wird heutigentags manche individuelle, aber auch gesellschaftliche Handlungsweise als alternativlos hingenommen.
Wolf Banitzki
Orest
von John von Düffel nach Sophokles, Aischylos, Euripides
Shenja Lacher, Andrea Wenzl, Sophie von Kessel, Norman Hacker, Valerie Pachner Regie: David Bösch |