Residenz Theater Reise ans Ende der Nacht nach Louis-Ferdinand Céline


Man kann einfach nicht wegschauen

Louis-Ferdinand Céline ist einer der umstrittensten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Sein Romanerstling „Reise ans Ende der Nacht“ schlug in Europa ein wie eine Bombe. Er selbst hielt sich für den bedeutendsten Dichter des Jahrhunderts und hatte keine Scheu, dies der Welt auch kundzutun. Er hielt sich allerdings auch für den fürchterlichsten Mistkerl, eine Koketterie, die er ebenfalls vor sich hertrug wie eine Standarte: „... der bescheidene Erfolg meines Lebens besteht darin, daß ich immerhin das Kunststück fertiggebracht habe, unter allen, der Rechten, der Linken, dem Zentrum, den Sakristeien, Logen, Zellen, Leichenhaufen, dem Grafen von Paris, Joséphine, meiner Tante Odile, Krukrubezeff, dem Pfarrer Groschengrab, für einen Augenblick Einigkeit darüber herzustellen, daß ich das größte lebende Dreckschwein bin!“ (Nord, 1960) Das Urteil der Welt fällt allerdings anders aus. Sie nennt ihn Rassist, Kollaborateur, Faschist und vor allem Antisemit. Interessant ist hingegen, dass Céline tatsächlich radikaler Pazifist und selbsternannter Anarchist mit deutlicher Neigung zum Kommunismus war. Erst ein Besuch der Sowjetunion 1936 brachte ihn von diesem ideologischen Pfad ab.

Wenn er sich einen Superlativ redlich verdient hat, dann wohl den, der größte Wirrkopf mit immensem literarischem Talent gewesen zu sein. Nach dem Krieg, er wartete in Dänemark ab, bis die Verfolgung der Kollaborateure eingestellt wurde, kehrte er nach Frankreich zurück, um sich bis zu seinem Ende als Opfer zu gerieren. Selbstkritik? Fehlanzeige!
„Reise ans Ende der Nacht“ ist ein monströser Roman voller Hass und Verachtung gegen die Welt und voller Verzweiflung und Angst vor Krieg. Céline mischte literarische Hochsprache mit Argot und dem rohen Soziolekt der Pariser Vororte. „Er ist ein primärer Spucker und Kotzer. Er hat ein interessantes elementares Bedürfnis, auf jeder Seite, die er verfaßt, mindestens einmal je Scheiße, Pisse, Hure, Kotzen zu sagen. …“ So Gottfried Benn im Jahr 1938. Auf den Erstling trifft das in gleichem Maße zu. Zu welcher Verwirrung auch großer Geister Célines Text „Bagatelles pour un massacre“ über die Judenverschwörung in Frankreich führten, belegt eine Aussage von André Gides, der meinte, dass Célines schriftstellerisches Wüten eine gewaltige Satire auf das zeitgenössische antisemitische Schrifttum sei. Sollte das Ganze allerdings kein Witz sein, wäre Céline, nach Gides Meinung, vollkommen verrückt. Letzteres kommt der Wahrheit sicherlich näher.

In „Reise ans Ende der Nacht“ erzählt Céline selbstverliebt und auf perfide Weise heroisierend seine eigene Geschichte, die mit dem Ersten Weltkrieg begann. Ferdinand Bardamu, so der Protagonist, wird verwundet und in eine psychiatrische Anstalt gesteckt. Er flüchtet nach Afrika und wird als Gefangener auf einer Galeere nach Amerika transportiert. Dort flieht er wiederum, gelangt nach einem Aufenthalt in New York nach Detroit, wo er bei Ford am Fließband arbeitet. Schließlich kommt er nach Paris zurück, um in der Vorstadt als Armenarzt tätig zu sein. Seit seiner Verletzung im Krieg hat er einen Doppelgänger: Robinson. Dieser Mann ist die Personifizierung seiner Angst, sein Wahn. Ferdinand Bardamu begegnet Menschen, die, wie er selbst, keinen Halt im Leben finden und Ausgestoßene sind. Celines Gestalten sind die ewigen Vorstadtbewohner der Geschichte: Soldaten, Huren und Irre.

 

  ReiseansEndederNacht  
 

Ensemble

© Matthias Horn

 

Castorfs Affinität zu den Außenseitern der Gesellschaft, deren Verkörperungen den Sinn von Zivilisation infrage stellen und den gängigen Wertesystemen den Boden unter den Füßen wegziehen, ist unübersehbar. Die Hinwendung zu diesen Themen, dazu gehören auch „Nord“ von Céline oder „Kokain“ von Pitigrilli, implizieren zugleich immer auch den Skandal. Dass Castorf nicht auf Skandal aus ist, beweist eigentlich sein gesamtes Werk, welches im Pommerschen Städtchen Anklam zu DDR-Zeiten seinen Anfang nahm, wo seine Proben von der Polizei geräumt wurden, weil ihm seine Berliner Fans nachreisten, und wo er mit den Kulturbehörden im Dauerclinch lag, bis zur aktuellen Inszenierung im Residenztheater. Dass sich der Skandal häufig nicht verhindern ließ, war Ausdruck seiner Standhaftigkeit in künstlerischen Dingen.

Die Geschichte hat ihm bisher Recht gegeben, denn Castorf gehört zu den erfolgreichsten seiner Zunft, der sich, im Gegensatz zu einigen anderen Zeitgenossen, nicht in Ästhetik suhlt, sondern „Stolpersteine“ in die Welt stellt. Dabei bedient er sich natürlich einer ausgefeilten Ästhetik, was kein Widerspruch ist. Castorf ist ein erklärter Gegner des bürgerlichen Amüsiertheaters, wenngleich er häufig in hohem Maße amüsiert. Allein, er will Menschen auf der Bühne. Und damit die Darsteller wieder zu Menschen werden, befreit er sie aus den „Zwängen der Schauspielkunst“. Verständlich wird diese These durch eine Aussage von Nicholas Ofczarek im Zusammenhang seiner Darstellung des Kasimir. In dem Horváth-Stück zwang Castorf den Schauspieler zu Bühnenumbauten, die ihm schier übermenschliche Kraftanstrengungen abverlangten. Durch diese physisch schwere Arbeit unterblieb Gestaltung weitestgehend und der Mensch Ofczarek trat an die Oberfläche, was seine Wirkung nicht verfehlte.

Zugegeben, die Schauspieler kommen dabei nicht immer gut weg, denn mit ihren künstlerischen Eigenarten nimmt Castorf ihnen auch häufig ihre darstellerische Individualität. Das ist legitim, wenn das Ergebnis stimmt. Und eben an diesem Punkt gehen die Meinungen der Zuschauer häufig auseinander. Das bedeutet polarisieren, was allerdings die Auseinandersetzung intensiviert. Was sollte grundsätzlich schlecht daran sein, wenn Theater aufregt. Nicht selten, und das trifft in hohem Maße auch für „Reise ans Ende der Nacht“ zu, treibt Castorf seine Schauspieler berserkerhaft durch die Szenen, häufig bis an die Grenzen der Atemlosigkeit und damit auch an die Grenzen der Verständlichkeit. Aber er schafft damit Wahrhaftigkeit, Authentizität.

Die Bühne von Aleksandar Denić war ein gewaltiger Verhau aus Autowrack, ineinander verschachtelte Hütten, Veranden, Kaninchenställe mit Aufbauten, Fernsehantenne, Ventilator, Zigarettenautomat, Teppiche, Kissen, Hausrat, Sonnenschirm, Autoreifen, Stapel von Konservendosen und skurrile Elementen wie Gaslaternen, Plakate faschistischen oder kolonialen Inhalts oder ein kleiner Elefant auf einem Hüttendach. Auch ein Porträtfoto von Céline war zu sehen. Es hing bezeichnenderweise über dem Medikamentenschrank. Céline war Arzt und verstand sich als Hygieniker. Darüber, wie eine riesige Werbefläche, eine Projektionsfläche für Videos. Zwei Kameraleute (Marius Winterstein und Jaromir Zezula) übertrugen viele der Vorgänge, die im Innern der Räume abliefen und für die Zuschauer unsichtbar blieben, auf die Videowand. Es wurden allerdings auch vorgefertigte Filme eingespielt, seltsam verfremdet und existenzialistisch grau (Stefan Muhle). Vier und eine Viertel Stunde (2. Vorstellung) dauerte die Hatz um Sinnsuche, Ausweglosigkeit, Bindungsangst und allerlei andere Verwerfungen der Seelenlandschaften. Dabei fiel eine Szene wegen technischer Probleme aus, doch das irritierte die Schauspieler nicht sonderlich. So wurde in ein, zwei Sätzen nebenbei erzählt, was der Zuschauer nicht gesehen hatte.

Castorf reizte jede Szene bis zum Äußersten aus, ließ die Frage nach Liebe, von emotionalen Ausbrüchen begleitet, endlos wiederholen, um dann die lakonische Antwort in den Raum fallen zu lassen: „Nein.“ Es war ein nihilistisches Stück Theater, das alles ins Bewusstsein rief, außer Optimismus, schon gar keinen Geschichtsoptimismus. Dabei lud der Regisseur beinahe jede Szene mit Anspielungen und Zitaten auf, mit denen der Zuschauer selten etwas anzufangen wusste, weil es eine Geschichte voraussetzt. Beispielweise „Kongo-Müller“, der Titel einer Dokumentation von zwei DDR-Journalisten, die einen Legionär namens Müller bei einer Flasche Whiskey dazu brachten, die perversesten Verbrechen zu beichten. Diese Sendung erschütterte ein Land.

So monströs wie das Buch von Céline ist, so monströs gestaltete Frank Castorf seine Inszenierung. Er verlangte seinen Darsteller sehr viel ab, ließ ihnen aber auch die Freiheit, sich als solche, als Darsteller zu outen, wenn es zu Brüchen im Text kam. Und es kam zu vielen Brüchen. Dann durfte schon mal die Frage gestellt werden: „Wie komme ich jetzt hier raus?“ Gemeint war die Szene. „Kostümwechsel!“ Und weiter ging es. Da wurde gelitten, verzweifelt um Liebe gebuhlt, Genitalien nach Krankheiten untersucht, Eier gebraten, viel geraucht usw. Die wichtigste Anleihe nahm Castorf bei Heiner Müller. „Der Auftrag“ handelt davon, dass drei französische Deputierte in Jamaika einen Sklavenaufstand initiieren sollen, um die Revolution zu exportieren. Noch ehe sie ihren Auftrag erfüllen konnten, übernahm Napoleon die Macht. Die Regierung, die ihnen den Auftrag erteilte, existierte nicht mehr: „Die Welt wird was sie war, eine Heimat für Herren und Sklaven. (…) Ich entlasse uns aus unserm Auftrag.“ Castorf ließ die Auszüge als Blues von Aurel Manthei und Fatima Dramé singen. Das war eine wirklich bewegende Szene.

Ferdinand Bardamu wurde sowohl von Bibiana Beglau als auch von Franz Pätzold gespielt. Franz Pätzold gestaltete ebenso wie Aurel Manthei den Doppelgänger von Ferdinand, den Léon Robinson. Im Gestus unterschieden sich die Darsteller kaum, denn Castorf zwang sie zu einem geradezu hysterischen Abspulen der Texte, die von platt-banal über zotig-derb bis hin zu kunstvoll-poetisch reichten.  Gerade die Rollenwechsel machten es für den Zuschauer nicht einfacher, die Übersicht zu behalten. Doch die Geschichte ist unterm Strich betrachtet ziemlich geradlinig und einen wirklichen Plot hat sie auch nicht. So sollte man sich besser auf die Sprache und auf die daraus resultierenden Assoziationen konzentrieren. Da wird ein ganzes Universum geboten.

Die Rezeption der Inszenierungen Frank Castorfs ist harte Arbeit. Er schenkt dem Zuschauer nichts und er nimmt keine Rücksichten. Man mag darüber streiten, ob vier und eine halbe Stunde angemessen sind. Der Regisseur würde meinen: „Unbedingt!“ Es ist seine Vision, der man folgen mag oder nicht. Castorfs Theater ist jedes Mal eine Schlacht und in einer Schlacht gibt es Opfer. So waren auch an diesem Abend die Reihen nach der Pause gelichtet. Die, die ausharrten, waren der Spannung erlegen und honorierten die Arbeit mit lebhaftem Applaus und Bravos. Ein wenig ist Castorfs Theater auch wie ein Unfall auf der Autobahn. Die Leichen liegen verstreut, Blut allenthalben und viel Entsetzliches, doch man kann einfach nicht wegschauen.

Wolf Banitzki

 


Reise ans Ende der Nacht

nach Louis-Ferdinand Céline

Götz Argus, Bibiana Beglau, Britta Hammelstein, Aurel Manthei, Franz Pätzold, Katharina Pichler, Michaela Steiger, Jürgen Stössinger, Fatima Dramé

Regie: Frank Castorf