Residenztheater Gloria von Branden Jacobs-Jenkins


 

Der Amoklauf und das Gestammel danach

Der Zuschauer lernte Gloria nicht kennen. Auf der Bühne des Münchner Residenztheaters blieb sie, eine verschlossen und autistisch durch die Szenen wandelnde Lilith Häßle, unfassbar. Scheinbar ebenso unfassbar blieb ihre Tat, wenn sie in der Mitte der 105 Minuten langen Aufführung mit einer Waffe erschien und in den Redaktionsräumen eines New Yorker Magazins ein Massaker anrichtete. Erst in der Reflexion der überlebenden Kollegen erhielt sie Konturen. Sie war zwar eine Einzelgängerin, aber belesen und freundlich. Eigentlich ganz normal. Wenn man sie ansprach, war sie hilfsbereit und mitteilsam. Sie war auch teilsam, teilte gern ihre sorgfältig angerichteten und gut riechenden Mahlzeiten aus der Tupperware-Box. Eine Killerin? Nein, eine Killerin war sie nicht, bekannte Lorin, den Bijan Zamani facettenreich als gestressten Faktenchecker gab, der am Ende des Stückes wieder einmal am Anfang einer Karriere stand. Er hatte überlebt, weil ihn seine Beine schnell genug vom Tatort weggetragen hatten. Im Gegensatz zu Dean, der, wie alle anderen, die Redaktion als existenzielle Falle empfand. Er hatte das zweifelhafte Vergnügen, in den Lauf der Waffe Glorias zu schauen. Sie begnadigte ihn, war er doch der einzige, der am Vorabend zu ihrer Einweihungsparty erschienen war. Mehr oder weniger ein Missverständnis, denn alle anderen hatten die Einladung als Witz aufgefasst. Gunther Eckes´ Dean war die menschlichste Erscheinung in dem Panoptikum von Karrieristen und Losern. Er fühlte sich zum Romancier berufen und darum erschien sein Vorhaben, die Geschichte Glorias zwischen zwei Buchdeckel zu bringen, durchaus naheliegend.

Doch beinahe jeder, der in irgendeiner Weise von dem Amoklauf betroffen war, fühlte sich bemüßigt, die Geschichte für sich zu vermarkten. Kendra, eine Kollegin, die der Arbeit lieber aus dem Weg und stattdessen shoppen ging, befand sich zur Tatzeit bei Starbucks, um sich Kaffee zu holen. Egal, ob sie etwas mitbekommen hatte oder nicht, allein die Tatsache, dass, wäre sie anwesend gewesen, ihr Leben in Gefahr gewesen wäre, reichte, um die eigenen Befindlichkeiten zu Papier zu bringen. Cynthia Micas agierte raumgreifend arrogant und perfide. Anders Lilith Häßle in der Rolle der Nan, eine bemerkenswerte darstellerische Verwandlung der Gloriadarstellerin. Sie hatte den Amoklauf unter ihrem Schreibtisch, übrigens hinter schusssicheren Scheiben und verschlossener Tür, verbracht. Ihr war in dem Augenblick des Tötens ihre Schwangerschaft bewusst geworden. Also ein „geiler Plot“, der ebenfalls erzählt werden wollte. Und da ein gutes Buch immer auch auf der Leinwand endet, vermutlich wegen der großen Zahl an (immerhin zahlungskräftigen) Nichtlesern oder Analphabeten, trafen sich Nan und ihr früherer Kollege Lorin, der ein Praktikum bei einer Filmfirma angenommen hatte, in Hollywood wieder. Gloria, a never ending story.
Der Plot der Geschichte von Branden Jacobs-Jenkins (Jahrgang 1984), die 2016 für den Pulitzer-Preis nominiert war, ist Retortenware, erinnert an eine Abschlussarbeit des Studiums für „Szenisches Schreiben“. Die Geschichte ist professionell verfasst, zu professionell, um zwingend in den Bann zu schlagen. Das ist nur bedingt eine negative Kritik. Für den Text spricht die Tatsache, dass der Autor durchaus über Erfahrungen aus dem Metier verfügt und vermutlich einigen Realismus in der geschickt gestrickten Dramaturgie unterbringen konnte. Das wirkliche Manko allerdings ist die Sprache. Eine künstlerische und darum zwingende Sprache gelang ihm nicht. Auch wenn es sich um eine Herde Medienmitarbeiter handelte, blöken die kaum in ein und derselben Sprache. Und wenn doch, sei an dieser Stelle eine Entschuldigung und ein Kotau vor so viel Genialität angebracht. Dennoch, eine gute Bühnesprache war es nicht, vielmehr die einer Comedyserie, alltäglich, rotzig, aufgeladen mit Vulgarismen und immer auf einen Lacher aus.

Leider folgte Regisseurin Amélie Niermeyer, zuletzt begeisterte sie ihr Publikum im Residenztheater mit „Rückkehr in die Wüste“ von Bernard-Marie Koltès, dieser textuellen Vorgabe und inszenierte gleichsam im Stil einer Comedyserie. Lobenswert an „Rückkehr in die Wüste“ waren die Leichtigkeit und auch die erstaunliche Komik, die Amélie Niermeyer freisetzte. Diese coole Lockerheit und auch die Komik waren angesichts dieses Themas in „Gloria“ allerdings unangemessen, denn das Publikum steckt momentan zu sehr in dieser Problematik, um zu einer wirklichen Orientierung zu gelangen. Endlos-Talk-Shows auf allen Kanälen beweisen das hinlänglich. Jeder Amoklauf ist noch immer eine Tragödie, die schwerlich mit komödischen Mitteln zu erklären ist. In dem Film „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ ließ Woody Allen Alan Alda, er spielte die Rolle eines erfolgreichen Produzenten von TV-Seifenopern und Comedy-Shows, folgenden Satz sagen: „Eine Komödie ist eine Tragödie plus Zeit.“ Hier wäre doch mehr Woody Allen und weniger Mario Barth angebracht gewesen.

  Gloria  
 

Gunther Eckes, Christian Erdt, Lilith Häßle

© Adrienne Meister

 

Diese Inszenierung diente der Wahrheitsfindung nicht. Abgesehen von der schlechten Verständlichkeit des gesprochenen Wortes über weite Strecken, gaben weder der Text noch die Inszenierung wirklich Aufschluss über den Konflikt, noch über Wege aus diesem inzwischen alltäglichen Konflikt mit Todesfolge. Hierzu bedürfte es eines Diskurses auf wesentlich höherem Level. Theater kann so etwas durchaus leisten! So blieb es im Stück wie auch in der Inszenierung bei Befindlichkeiten und dem naturgemäßen Gestammel darüber. Um uns diesem Problem überhaupt nähern zu können, bedarf es einer radikalen Hinterfragung der heutigen Gesellschaft, in der eine vermeintliche Freiheit sinnlos ausgebeutet wird, um individuellen Narzissmus zu produzieren, dessen Sinnentleerung in der Ultima Ratio enden muss, denn Narzissmus kommt ohne Anerkennung von außen nicht aus.

Und in einer Welt, in der News von der Unterhaltungsindustrie derart vereinnahmt wurden, da sie ob ihrer radikalen Bilder den inzwischen höchsten Marktwert haben, ist die Ultima Ratio für das deformierte Bewusstsein der letzte Lösungsweg, um einen unlösbaren Konflikt (zumindest für den Protagonisten) aus der Welt zu schaffen.

Was geschieht, ist gesetzmäßig. Also Schluss mit der ganzen Heulerei und dem heuchlerischen „Warum?“. Jeder Theatermacher weiß, dass, wenn eine Waffe auf der Bühne erscheint, sie auch zur Anwendung kommt. Im Leben ist das nicht anders? Ist die Welt zu dumm, dies zu begreifen, oder hat das was mit ganz banalen pekuniären Interessen zu tun? Kaum ein Begriff wird heutigen tags so häufig bemüht wie das Wort Freiheit. Freiheit gibt es nicht. Freiheit ist ein Abstraktum, ist ein unerreichbares Ideal, das anzustreben sich immerhin lohnt. Die Wege zur Freiheit sind in der heutigen Gesellschaft zum übergroßen Teil Irrwege, schon, weil diese Gesellschaft glauben machen will, dass Freiheit von Besitz abhängig ist. Eines ist so sicher wie das Amen in der Kirche: Das Streben nach Besitz erzeugt unendlich viel Unfreiheit. Auch Besitz ist eine Illusion, der wir uns lediglich für die Dauer unserer Existenz hingeben können. Und schlimmer noch, diese Gesellschaft setzt Besitz und Erfolg in hohem Maße gleich.

Tatsache ist, dass die Ideale, von der diese Gesellschaft angeblich durchdrungen ist, pervertiert sind. Obgleich wir heute an vielen Orten dieser Welt dank der technischen Möglichkeiten auf das gesamte Weltwissen zugreifen können, waren die Verwirrung und die Unwissenheit darüber, wie wir unsere täglichen Probleme, die wir zudem nicht einmal ansatzweise durchschauen, lösen können. Es mag die Vernunft in dieser Welt noch geben, am Ruder ist sie momentan nicht. Und so driften wir heulend und zähneklappernd durch die Zeit, hoffend, dass sich nichts ändern möge, soweit es uns nur gut geht.

Wolf Banitzki

 


Gloria

von Branden Jacobs-Jenkins
Deutsch von Christine Richter-Nilsson + Bo Magnus Nilsson

Gunther Eckes, Cynthia Micas, Marina Blanke, Anne Kulbatzki, Lilith Häßle, Christian Erdt, Bijan Zamani

Regie: Amélie Niermeyer