Residenztheater  Alice im Wunderland von Lewis Caroll


 

Die Poesie des Nonsens

Alle Jahre wieder: Ein Weihnachtsmärchen für die Kleinen und die, die sich das Kleinsein erhalten konnten. Diesmal kam der bedeutendste Klassiker der Nonsens-Literatur auf die Bühne: Alice im Wunderland. Autor dieses wunderbaren, weltweit gelesenen Werkes war der Tutor für Mathematik Charles Lutwidge Dodgson, der sich den Künstlernamen Lewis Carroll gab. Er unternahm am 4. Juli 1862, der Termin ist umstritten, denn das Wetter war an diesem Tag scheußlich, mit den Töchtern des Oxforder Dekans, Lorina Charlotte, Alice Pleasance und Edith Mary Liddell eine Bootsfahrt auf der Themse. Dabei erzählte er ihnen eine sehr skurrile Geschichte, die er anfänglich „Alice’s Adventures Under Ground“ und dann später nach etlichen Hinzufügungen „Alice’s Adventures in Wonderland“ nannte. Auf den Tag genau drei Jahre später erschien die erste Buchausgabe.

Lewis Carroll hatte sich schwer getan mit einer Veröffentlichung, betrübte ihn doch die Unsicherheit, dass Kinder den Text nicht verstehen und ihn somit auch nicht rezipieren könnten. Zerstreut wurden die Bedenken durch den engen Freund George MacDonald, schottischer Dichter und Pfarrer, der den Text seinem Sohn Greville vorlas, der über alle Maßen begeistert reagierte. Gewidmet hatte Caroll das Buch über die Abenteuer der kleinen Alice, das von Königin Victoria ebenso begeistert gelesen wurde wie von Oscar Wilde, der gleichnamigen Alice Pleasance Liddell.

Leider scheint sich hinter der Beziehung zwischen Caroll und dem von ihm bevorzugten Mädchen und Fotomodell ein dunkles Geheimnis zu verbergen, denn die Freundschaft mit der Familie Liddell brach im Juni 1863 abrupt ab. Niemand erfuhr den Grund dafür und die Familie des Schriftstellers tilgte sämtliche Dokumente, die darüber hätten Aufschluss geben können. 1880 brach auch die Karriere als recht erfolgreicher Hobbyfotograf ab. Caroll bevorzugte als Modelle Mädchen im Alter von fünf oder sechs Jahren, die er auch nackt ablichtete. Die Malerin Emily Gertrude Thomson, die Caroll die jungen Modelle vermittelte, berichtete von den Fotosessions: „Wie sein Lachen klang – wie das eines Kindes!“ Hoffen wir mal, dass alles so unschuldig war, wie es sich in diesem Satz darstellt.

  Alice im Wunderland  
 

Till Firit (Hutmacher), Barbara Melzl (Herzkönigin), Mara Widmann (Weißes Kaninchen), Arthur Klemt (Diedelidum), Arnulf Schumacher (Henker), Wolfram Rupperti (Diedelidei), Tim Werths (Mäusemann)

© Thomas Aurin

 

Zum Text: Alice ist ein vorlautes Geschöpf, dem Regeln eigentlich zuwider sind. Als sie gemeinsam mit ihrer Schwester in freier Natur weilt, die Schwester liest ein langweiliges Buch, in dem es weder „Bilder noch Gänsefüßchen“ gab, entschlummert sie in einen Traum. Ihr war ein weißes Kaninchen begegnet, dem sie in dessen Bau folgt. Alice gerät in eine wundersame Welt voller skurriler Figuren und Landschaften. Kaum etwas macht wirklich Sinn. Doch das war längst kein Grund für das Mädchen, zu verzweifeln. „(…) Alice hatte sich so sehr an das Außerordentliche gewöhnt, dass ihr die Normalität fade und dumm erschien.“ Die Reise führt sie zuallererst durch die Sprache, in der alles möglich scheint. Sie breitet sich ebenso widersinnig labyrinthisch aus, wie die seltsamen Charaktere und deren Größenverhältnisse. Alice kann sich in Sekundenschnelle von einer drei Meter großen Riesin auf das Format einer Raupe schrumpfen. Dabei gerät sie beispielsweise in ein Haus, das durch ihr Wachstum zu bersten droht, oder in einen See, der aus ihren eigenen Tränen besteht. Als sie am Ende einem für alle Beteiligten tödlich endenden Prozess der Roten Königen entkommt, deren Hofstaat sich als flatternde Spielkarten entpuppt, erwacht sie im Schoß der Schwester, die ihrerseits den Traum aufgreift und sich von der durch Alice angeregten Fantasie in den Sonnenuntergang tragen lässt.

Regisseurin Christina Rast hielt sich im Wesentlichen an die literarische Vorgabe und breitete die ganze Fülle der Szenen vor dem staunenden Publikum im Residenztheater aus. Dabei hatte sie einige physikalische Hürden zu überwinden, z.B. das permanente Schrumpfen und Wachsen. Immerhin konnte sie auf einige Erklärungen im Text zurückgreifen, denn schließlich ist ja alles relativ. War die Tür klein, war Alice, gespielt von einer quietschlebendigen Anna Graenzer, groß, und umgekehrt. Fraglich blieb allerdings, ob die kleinsten Besucher, die Vorstellung war für Kinder ab 6 Jahre ausgeschrieben, das auch erfasst und verstanden haben. Egal, es war allemal Spektakel genug auf der Bühne, um die Kleinen wie die Großen zu fesseln.

Dafür sorgten auch die exzellent kostümierten Figuren (Kostüme Marysol del Castillo) wie das Weiße Kaninchen, perfekt mit Mara Widmann vom Münchner Volkstheater besetzt, oder der Hutmacher, beeindruckend präsent und sprachlich geschliffen von Till Firit gestaltet. Eine Anleihe aus „Alice im Spiegelland“ waren Arthur Klemt als Diedelidum und Wolfram Rupperti als Diedelidei. Das spiegelverkehrte Paar (die Zwillinge Tweedledee und Tweedledum) sorgte ebenso für Amüsement wie Tim Werths Humpdipumpel, gleichsam aus dem „Spiegelland“ entlehnt, wo er ein „Ei auf der Mauer“, genannt Humpty Dumpty, gab. Im Residenztheater schwebte er federleicht in den Höhen des (Bühnen-) Himmels, quasi von oben herab seine krude Weltsicht propagierend. Ihm verdankt die Welt immerhin den „Ungeburtstag“, den man an 364 Tagen im Jahr feiern kann. Arnulf Schumacher, dem Residenztheatergänger seit vielen Jahren hinreichend bekannt, war eigentlich nur als Henker erkennbar, dabei belustigte er darüber hinaus als Walross, Absolem – die Raupe und als Babyferkel.

Beängstigend wuchtig geriet Barbara Melzls Herzkönigin, besonders wenn sie nachdrücklich „Kopf abschlagen!“ forderte. Das verbreitete bei den Kleinen im Publikum doch einigen Schrecken, zumal wenn, wie im Text, diese Forderung nicht deutlich zurückgenommen wurde. Dort nämlich verkündete beispielsweise der Herzkönig, in der Spielfassung ein (sinnvolles) Opfer des dramaturgischen Strichs, im Abgang die Begnadigung aller Verurteilten. Noch deutlicher wurde (im Text und nicht auf der Bühne) der Greif (Jabberwocky), der Alice zur Falschen Suppenschildkröte brachte, damit sie von der ihre traurige Lebensgeschichte erfahren sollte. Er stellte richtig: „Was für ein Spaß!“ Als Alice sich nach dem Spaß erkundigte, erklärte der Greif: „Nun, Sie natürlich. Das geschieht doch alles nur in Ihrer Einbildung: niemand denkt daran, jemanden hinzurichten.“

Die Grinsekatze, ihre Stimme aus dem Off lieh ihr Raphael Clamer, entsprach ziemlich genau der Originalillustration von Sir John Tenniel und schlich sich immer wieder als Videoprojektion ein. (Video Katja Moll) Auf diese Weise war es für jedermann schlüssig und verständlich, wie ein Grinsen ohne Katze zustande kommt.

Es war eine gelungene Inszenierung, der das fantasievolle, sowohl schöne wie auch zweckmäßige Bühnenbild von Franziska Rast ein eindrucksvolles Fundament bereitete. Die Umsetzungen der Widersinnigkeiten mögen vielleicht nicht allen Kindern aufgegangen sein, für die Erwachsenen, die ja, verglichen mit den Kindern nicht unbedingt mit Fantasie und Weisheit gesegnet sind, war es eine intellektuelle Herausforderung, womit ganz nebenbei der Beweis erbracht wurde, dass Theater bildet. Die Textbearbeitung von Christina Rast und Götz Leineweber erleichterten das Verständnis (soweit es darauf überhaupt ankam) durchaus. Die Lieder von Felix Müller-Wrobel, beherzt musikalisch untermalt von den Musikern Micha Acher, Cico Beck, Mathias Götz und Alex Haas, hatte eine ganz eigene Qualität, die den Vergleich zu Lewis Carolls Nonsens-Gedichten nicht scheuen brauchten.

Es ist vorstellbar, dass es nicht einfach sein wird, für diese Inszenierung Karten zu bekommen. Aus gutem Grund!

Wolf Banitzki

 


Alice im Wunderland

von Lewis Carroll
für die Bühne bearbeitet von Christina Rast und Götz Leineweber mit Liedern von Felix Müller-Wrobel

Anna Graenzer, Mara Widmann, Barbara Melzl, Till Firit, Tim Werths, Arthur Klemt, Wolfram Rupperti, Arnulf Schumacher,
Alexander Breiter, Claudia Ellert, Oliver Exner, Julien Feuillet, Kirsten Schneider, Monika Steinwidder, Olivia Szpetkowska, Dave Wickrematilleke

Live-Musiker: Micha Acher, Cico Beck, Mathias Götz, Alex Haas

Regie: Christina Rast