Residenztheater Sommergäste von Maxim Gorki


 

Es lebe das Spießertum

Seine „Universitäten waren die Straßen“, so Alexéj Peschków, der sich zum Erscheinen seiner ersten Erzählung in einer Provinzzeitung im Jahr 1892 Gorki, zu Deutsch der „Bittere“, nannte. „Ich begriff schon sehr früh, dass der Mensch durch seinen Widerstand gegen die Umwelt geformt wird.“ Geboren als Sohn eines Wolga-Treidlers, eines Leibeigenen, wuchs er unter ehemaligen Sträflingen, die nach Sibirien verbannt worden waren, und Fabrikarbeitern auf. Neunzehnjährig und verbittert über die Tatsache, dass er keine höhere Bildung erlangen würde, schoss er sich eine Kugel in die Brust. Er verfehlt das Herz, zerstörte aber die Lunge und litt lebenslang unter Tuberkulose. Seine Verzweiflung über die eigene Unbildung und die seiner Mitmenschen, unter denen er vornehmlich lebte, schimmerte in seinen Werken immer wieder durch. Er durchwanderte das mittlere Russland bis zur Krim und an den Kaukasus, wo er unzählige Berufe ausübte und unter Landstreichern, Sinti und Roma und Verbannten lebte. „Ich kam in die Welt, um nicht einverstanden zu sein …“

Nach seinem literarischen Debüt fand er Anstellung als Lokalreporter für Moskauer Zeitungen. Gorki schrieb Erzählungen, die naturgemäß sehr kenntnisreich vom Leben eben dieser Menschen berichteten  die ihm nahe standen. Allein diese Tatsache machte ihn schon zu einem der Revolution nahe stehenden Zeitgenossen. Mit dem Gedicht „Der Sturmvogel“ avancierte er schließlich selbst zum Sturmvogel der Revolution. Während ihn seine Gefährten aus der Arbeiterklasse und der revolutionären Studentenschaft feierten, verhaftete ihn das zaristische Regime und verbannte ihn. Zur Theaterbühne kam Gorki vorerst nicht durch eigenes Zutun. Sein Roman „Fomá Gordéjew“ wurde mehrfach zum Theaterstück umgearbeitet und 1901 auf mehreren Bühnen gespielt. Das erste Theaterstück Gorkis, „Die Kleinbürger“ („Die Spießbürger“), wurde von Stanislawski im darauffolgenden Jahr mit dem Moskauer Künstlertheater in Szene gesetzt. Der Erfolg ermutigte Stanislawski, Gorkis „Nachtasyl“ zu inszenieren. Die Premiere war im Dezember 1902 ebenfalls am Moskauer Künstlertheater. Max Reinhardt brachte das Stück am Deutschen Theater nur wenige Monate später heraus. Damit war Gorkis Weltruhm begründet.

1904, am Vorabend der Revolution, die Gorki sehnsüchtig herbeiwünschte und an der er aktiv teilnahm, entstand sein Stück „Sommergäste“. Darin beklagte er den Zustand der russischen Intelligenzija, die sich soweit vom realen Leben entfernt hat, dass von ihr keinerlei Impulse für die gesellschaftliche Entwicklung mehr ausgehen konnten. Gorki ging in dieser Situation ganz klar von einer revolutionären aus und sah das Damoklesschwert über der Intelligenzija schweben. Er stellt diese soziale Schicht vor die Alternative, sich der rauen Wirklichkeit aktiv zu stellen und den Weg in die Gesellschaft zurückzufinden oder aber zugrunde zu gehen. Damit verhandelt Gorki ähnliche Prämissen wie Tschechow, der in der kulturtragenden Schicht eine ebenso dem Untergang geweihte sah. Tschechow erkannte den Unterschied zwischen Gorki und seiner eigenen Literatur. Er schrieb in einem Brief: „… aber das Verdienst Gorkis liegt ja nicht darin, dass er gefällt, sondern darin, dass er als erster in Russland und in der Welt überhaupt mit Verachtung und Abscheu vom Spießertum gesprochen hat, und das zu einer Zeit, da die Gesellschaft auf diesen Protest vorbereitet war. Vom christlichen sowie vom ökonomischen und jedem beliebigen anderen Standpunkt aus ist das Spießertum ein großes Übel, es hat wie ein Wehr in einem Fluss immer nur Stillstand verursacht, (…)“

Besser kann man die Ausgangssituation für das Stück „Sommergäste“, das nun in einer Inszenierung von Joe Hill-Gibbins am Münchner Residenztheater Premiere hatte, kaum beschreiben. Das Stück spielt auf der Datsche des Rechtsanwaltes Bassow und seiner Frau Warwara Michajlowna. Freunde und Familienmitglieder haben sich eingefunden, um die Sommerfrische zu genießen. Man gibt sich dem Müßiggang hin, spricht dem Alkohol und den kulinarischen Genüssen zu, badet im Fluss und unternimmt lange Spaziergänge. Es beginnt als belangloser und freundlicher Smalltalk, doch bald schon wirft die glatte Oberfläche Blasen, der schöne Schein bekommt Risse und es lässt sich nicht mehr länger verbergen, welche eruptive Kraft unter dem Spießerdasein brodelt. 

  Sommergaeste  
 

v.l. Sophie von Kessel, Christian Erdt, Enea Boschen, Thomas Lettow, Aurel Manthei, Robert Dölle, Brigitte Hobmeier, Hanna Scheibe, Vincent Glander, Michael Goldberg, Katja Jung
© Sandra Then

 

Es waren zwei Frauen, die das Dilemma benannten: Warwara Michajlowna, gespielt von Brigitte Hobmeier, eingangs zurückhaltend, zuletzt explosiv und mit Worten brandschatzend, und die Ärztin Marja Lwowna, die Katja Jung als eine warmherzige Frau und als soziales und humanes Gewissen gleichermaßen verkörperte. Sie stellte die Fragen, die die Protagonisten des Spießertums aus der Fassung brachten, wofür sie von dem um etliche Jahre jüngeren Wlas, Bruder Warwaras, geliebt und umworben wurde. Christian Erdt spielte ihn extrovertiert, um die eigene Verletzlichkeit zu kaschieren. Am Ende konnte sich Marja Lwowna nicht über die gesellschaftlichen Konventionen hinwegsetzen und sich zu der Liebe bekennen, die sie selbst verzehrte. Robert Dölles Rechtsanwalt Bassow machte in seiner spießigen Intriganz deutlich, wie verabscheuungswürdig und lächerlich er dieses Verhältnis empfand. Er entblödete sich allerdings auch nicht, die eigene Ehefrau coram publico zu beleidigen und zu erniedrigen und mit ihr gleich das ganze weibliche Geschlecht. Dieser Mann war durch kein Argument oder Gefühl zu erschüttern. Seine Maxime war: „Evolution und nicht Revolution!“, wobei selbst der evolutionäre Gedanke bei ihm keineswegs fruchtete.

Schützenhilfe bekam er zuletzt von dem Ingenieur Suslow, gespielt von Aurel Manthei, der darunter litt, dass seine Ehefrau Julija Filippowna, lasziv gegeben von Sophie von Kessel, stets auf erotischen Abwegen wandelte. Ihre nekrophile Haltung ging sogar soweit, einen gemeinsamen Suizid vorzuschlagen. Den versuchte indes Rjumin, als seine Liebe von Warwara Michajlowna nicht erhört wurde. Thomas Lettow verlieh ihm, was der Figur unbedingt eigen war: Lächerlichkeit. Er hatte sich in die Schulter geschossen und nicht ins Herz. Doch es gab auch tatsächliche Tote im Stück, denn auf einer Baustelle Suslows wurden zwei Arbeiter von einer herabstürzenden Mauer erschlagen. Selbst dieser folgenreiche Unfall konnte bei Suslow keine Empathie erzeugen. Er bekannte in einem lautstarken Monolog, dass ihm die ganze Gesellschaft und die drängenden Fragen vollkommen kalt ließen und er einfach nur seine Ruhe haben wollte. Es lebe das Spießertum!

Alle Konflikte zwischen den vierzehn Figuren und die Leistungen der Darsteller zu benennen, würde den Rahmen sprengen. Joe Hill-Gibbins hatte keine Figur stiefmütterlich behandelt und so fanden eine Menge Diskussionen, Auseinandersetzungen, aber auch Missachtungen und Übergriffe statt. Die praktikable Bühne von Johannes Schütz wurde von einem weißen Schaukasten umrahmt, der allerdings Einblick in den gesamten Bühnenraum zuließ. Auf der Drehbühne, die nur selten zum Stillstand kam, befand sich in der Mitte ein Häuschen mit begehbarem Dach. Darin eine Dusche, in der geduscht wurde, die aber auch Vorgänge verbarg, die das Licht der Öffentlichkeit scheuten. An der Peripherie der Drehbühne befanden sich mehrere Lagerstätten mit zahllosen Flaschen, etlichen Getränkekisten und gelegentlich auch mit Campingstühlen. So konnten mehrere Gesellschaften gleichzeitig gebildet werden, deren Gespräche sich auch akustisch überschnitten, was der Verständlichkeit allerdings nicht immer zuträglich war.

Leider ließ sich die Inszenierung recht behäbig an und es entstand der Eindruck, als würden beinahe eine und eine halbe Stunde lang, also fast zwei Drittel der zwei Stunden und zwanzig Minuten langen Inszenierung, kaum mehr passieren als oberflächliches Geplänkel. Das erzeugte Längen, die nicht hätten sein brauchen, wäre nicht die Komik der Figuren unausgestellt geblieben. Diese Figuren könnten getrost auch in einem Tschechow Stück angesiedelt sein. Tschechow betrachtete alle seine Bühnenwerke als Komödien und das nicht, weil die Geschichten komisch waren, sondern die handelnden Figuren. Es sind zumeist lächerliche Menschen und das sind sie zum überwiegenden Teil in Gorkis „Sommergäste“ auch. Zum Beispiel Schalimow, Schriftsteller und von den Frauen umschwärmter Exot, gespielt von Vincent Glander. Er ist ein aufgeblasener und eitler Mensch, der völlig ausgebrannt und künstlerisch impotent ist, aber immer noch den Zampano gibt. Oder der Arzt Dudakow, von Thomas Reisinger als einer an seinen Aufgaben zu Tode ermüdeter Mensch gespielt. Deutlich wurde diese komische Potenz, als er über den Blödsinn sprach, sich in die Schulter und nicht ins Herz zu schießen. Er ist eine ebenso komische Figur wie seine Ehefrau Olga Alexejewna. Hanna Scheibe gab sie unentwegt jammernd und quengelnd, doch leider nicht komisch, was durchaus im Bereich des Möglichen lag.

Der Showdown am Ende entschädigte zwar für die Längen am Anfang, machte sie allerdings nicht vergessen. In diesem explosiven Abgesang kam alles auf den Tisch, was unterschwellig schwelte. Brigitte Hobmeier redete Tacheles und schlug der Gesellschaft ihre ganze Verachtung um die Ohren. Am Ende postulierte sie voller Abscheu, in dieser Gesellschaft nicht weiter leben zu können, nicht weiter leben zu wollen. Doch sie hatte nicht das letzte Wort. Das blieb Bassow vorbehalten, der schlichtete und deutlich zu verstehen gab, dass sich nichts ändern wird, zumindest in seiner Vorstellung nicht. Und so blieb Brigitte Hobmeier geschlagen im langsam verlöschenden Gegenlicht als Silhouette zurück. Niemand hatte sich ernsthaft bereit erklärt, Verantwortung zu übernehmen und der Wahrheit ins Gesicht zu schauen.

Diese Botschaft ist heutig, auch wenn wir meinen, auf der sicheren Seite zu sein und in der besten aller Welten zu leben. Nein, die Blasen und Risse in der Hochglanzoberfläche unserer Wohlstandsgesellschaft sind vielleicht zu leugnen, nicht aber zu übersehen. Eine Gesellschaft ohne Utopien und in einer solchen leben wir, ist eine Spießergesellschaft. Die Botschaft immerhin ist angekommen.

Wolf Banitzki

 

 


Sommergäste

von Maxim Gorki

Mit: Robert Dölle, Brigitte Hobmeier, Luana Velis, Christian Erdt, Aurel Manthei, Sophie von Kessel, Thomas Reisinger, Hanna Scheibe, Vincent Glander, Thomas Lettow, Katja Jung, Enea Boschen, Michael Goldberg, Dalle Mura

Inszenierung: Joe Hill-Gibbins
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