Residenztheater Drei Schwestern von Simon Stone


 

Depression statt Melancholie

Tschechows „Drei Schwestern“ sind Verlorene. Durch den Vater, einem Offizier, wurden sie in eine provinzielle Garnisonsstadt verschlagen, wo sie ein eher freudloses Dasein fristen. Der Vater war gestorben und noch immer machten die Offiziere den drei Schwestern ihre Aufwartungen. Die Gespräche kreisten immer wieder um die eine große Sehnsucht, irgendwann nach Moskau, ins wahre Leben zurückzukehren. Schließlich wird die Garnison aus dem Städtchen abgezogen und damit erstirbt die Hoffnung auf ein anderes, ein sinnerfüllteres und glücklicheres Leben.

Die „Drei Schwestern“ von Simon Stone sind ebenfalls Verlorene, nur sind ihre Leben so gänzlich anders als die der drei Schwestern in der Komödie von Tschechow, denn sie leben in der Welt von heute, in einer Welt in der es das Problem, an einen Ort gebunden zu sein, nicht mehr gibt. Doch diese Freiheit hat die Schwestern nicht glücklicher gemacht. Es gibt in Stones Stück kein großes Postulat, bei Tschechow ist es das Wort „Moskau“, das die Schwelle zum Glück verheißt, es gibt nur eine Vielzahl von Einsichten, die das Unglück garantieren. Zusammengefasst hat Stone das in der Fragestellung: „Verdienen wir überhaupt, glücklich zu sein? Weil vielleicht suchen wir immer das Gegenteil. Also sabotieren wir alle Chancen, die das Leben uns gibt.“ Es geht um einsame Menschen und daran hat sich außer den äußeren Erscheinungsformen bis heute nichts geändert. Was bei Tschechow die Leere war, ist heute die permanente „Kommunikation“, das Geschwätz, das Getöse, das veranstaltet wird, um auf sich aufmerksam zu machen.

Simon Stone ließ sich nicht nur von Tschechows „Drei Schwestern“ inspirieren, es wurde auch auf Möwen geschossen, eine aufrichtige Liebe verraten und ein Selbstmord wegen unerwiderter Liebe wurde begangen. Die Schwestern verloren das Ferienhaus, der letzte Ort, wo Familie stattfand, und zwar durch eigenes Verschulden. Also fanden sich auch Anklänge aus „Die Möwe“ und aus „Der Kirschgarten“ wieder. Allerdings zelebrierte Simon Stone keine Psychologie auf dem Tableau, sondern ungeschminktes modernes Leben hinter Glas.

Lizzie Clachans Bühnenbild bestand aus dem bereits erwähnten Ferienhaus (auf der Drehbühne) das drei Etagen aufwies, die allesamt großzügig verglast waren und ungefilterte Einblicke bis in die letzten intimen Winkel der Geschwister zuließen. Stone erzählte die Geschichte in drei Akten, in denen sich die Familie jeweils zu besonderen Anlässen traf. Der erste Akt spielte in der warmen Jahreszeit, denn es wurde im See gebadet und die Sommerfrische genossen. Das zweite Zusammentreffen fand statt, um gemeinsam Weihnachten zu feiern und im dritten Akt mussten die Schwestern das Ferienhaus räumen, da es verkauft werden musste. Zuletzt erfuhren die Eigentümer, dass es zwei Tage später abgerissen werden sollte, um einer Luxusvilla Platz zu machen. Das Ende war blutig.

  Drei Schwestern  
 

Ensemble

© Sandra Then

 

Simon Stones Protagonisten agierten parallel und auch auf unterschiedlichen Ebenen des Hauses zueinander und da das gesprochene Wort via Mikroport nach außen übertragen wurde, konnte nach Belieben zwischen den häufig gleichzeitigen Dialogen und Gesprächen hin und her geswitcht werden. Es wurde nicht deklamiert, nicht zum Publikum gespielt, sondern die Gespräche fanden auf sehr natürliche Weise statt. So entstand schnell ein cineastischer Eindruck, nicht zuletzt, weil viel hinter Glas passierte und somit die vierte Wand betont wurde. Auf diese Weise interagierten die Vorgänge nicht mit dem Publikum, was wiederum dazu führte, dass die über weite Strecken alltäglichen Belange eine deutlichere Betroffenheit auslösten, denn das Publikum sah sich zum Voyeurismus verdammt.

Es fällt schwer, die einzelnen Geschichten und Schicksale gegeneinander abzuwägen, da sie alle menschliche Katastrophen beschreiben. Durchgängig und dramaturgisch für das Ende von wesentlicher Bedeutung ist die Liebe zwischen Natascha und Andrej, drogensüchtiger Bruder der drei Schwestern. Cathrin Störmer spielt eine quäkige, dümmlich anmutende Natascha, die allerdings im Gegensatz zu allen anderen Frauen sehr genau weiß, was sie will. Sie wird von den Schwestern wegen ihrer prolligen Art nicht ernst genommen, doch triumphiert die am Ende zweifache Mutter ökonomisch über die Familie und nimmt ihnen ihr Feriendomizil. Um ökonomisch erfolgreich zu sein, muss man nicht intelligent sein, lediglich brutal und verschlagen genug. Das ist unbestritten ein Merkmal unserer neoliberalistischen Zeit. Nicola Mastroberardinos Andrej, der zuletzt wenigstens clean war, ging mit all seinen hochkarätigen Potenzen und Ideen im selbstgefluteten Drogensumpf unter.

Schwester Irina wurde gespielt von Liliane Amuat. Verheiratet mit Theodor, von Michael Wächter mit viel Energie ausgestattet, verliebt sie sich in Nikolai, ungelenk und ladegehemmt von Max Rothbart gegeben, der daheim eine depressive Frau und zwei Töchter zu sitzen hat, und der am Ende kneift. Die Lehrerin Olga (Barbara Horvath), bei ihrem Spiel versteht man den Witz, dass Lehrer kein Beruf, sondern eine Diagnose ist, lebt, trotz gegenteiliger Behauptung gewiss nicht glücklich, in einer lesbischen Beziehung. Die von Franziska Hackl gespielte Mascha ist ebenfalls eine unentschiedene Figur, die ihren Alexander (Elias Eilinghoff) zuletzt dem freien Fall überantwortet. Onkel Roman, Arzt im Ruhestand, Roland Koch hatte neben dem Part des Alkoholikers nicht viel mehr zu gestalten, grub zuletzt auch noch seine persönliche Leiche aus und zog für die ganze Gesellschaft ein bitteres Fazit: „Wir sind alle Betrüger. Das Leben ist ein einziger Beschiss.“

Es wurde viel Alkohol konsumiert, viel gekifft oder anderweitige Drogen konsumiert, viel Zynismus über den Zustand der Welt ausgebreitet, viel sich selbst gefickt oder andere dazu aufgefordert, es zu tun und irgendwie wurde man das Gefühl nicht los, dass alle durch die Bank absolute Versager waren. Das war zwar zu viel des Schlechten, aber immerhin sehr eloquent verkauft. Stones Texte klangen dabei nicht selten wie aus einer Vorabendserie über gesellschaftliche Außenseiter. Aber können wir aus dieser Gesellschaft und deren Zustand den Zustand der Welt ablesen? Bei Tschechow konnte man das. Heraus kam ein wunderbares Maß an Melancholie, denn selbst wenn jemand zu Tode kam, gab es immer auch Figuren, die weitermachten mit dem Leben, weil es sich lohnte. Bei Simon Stone sind diese Hoffnungsträger nicht auszumachen und daher stellte sich am Ende eine große Depression ein, mit der man nur ungern nach Hause ging.

Die Inszenierung hatte viele komische Momente, war von engagierten Darstellern gestaltet und verfügte über ein großartiges Regiekonzept, was den Abend zweifellos zu einem sehr sehenswerten machte. Doch das effektheischende Ergebnis muss mit einem Fragezeichen versehen werden, da es schwer vorstellbar ist, dass sich der überwiegende Teil des Publikums in dieser Gesellschaft wiederfand. Wir leben in Zeiten, in denen sich apokalyptische Voraussagen und Visionen langsam im Alltäglichen festsetzen, was zu mehr Emotionen und zu weniger Vernunft führt. Weltuntergang ist angesagt und Tischgespräch. Es sind die destruktiven Kräfte in der Gesellschaft, die sich dieser Mechanismen zielgerichtet bedienen. Das Theater sollte da nicht unbedingt mittun. Insofern sind Zweifel über den Sinn dieser Inszenierung angebracht.

Wolf Banitzki

 


Drei Schwestern

von Simon Stone nach Anton Tschechow

Mit: Barbara Horvath, Franziska Hackl, Liliane Amuat, Nicola Mastroberardino, Cathrin Störmer, Michael Wächter, Elias Eilinghoff, Simon Zagermann, Max Rothbart, Roland Koch, Florian von Manteuffel

Inszenierung: Simon Stone