Residenztheater Vor Sonnenaufgang von Ewald Palmetshofer
Der Mensch – kaum Grund zur Hoffnung
Das 19. Jahrhundert brachte für die Region Oberschlesien den wohl tiefgreifendsten wirtschaftlichen Einschnitt in die Agrarkultur. Es wurden Kohlevorkommen unter den Äckern entdeckt und große Gesellschaften machten Bauern mit kleiner Scholle, die seit Jahrhunderten ums Überleben kämpften, zu Multimillionären. Die allerwenigsten Betroffenen konnten mit dieser Situation umgehen und eine Jahrhunderte alte Lebensweise und Daseinskultur wurde unvermittelt auf den Kopf gestellt. Alle menschlichen Bindungen, über lange Zeit gewachsen, zerbrachen über Nacht. Hedonismus, Gier und Laster aller Art griffen um sich.
Diese Zeit prägte auch den jungen Gerhart Hauptmann, dem bürgerlichen Mittelstand entstammend und ohne soziale Not aufgewachsen, und machte ihn zu einem kritischen Betrachter dieser Realität. In seinem Werk schlugen sich die Themen zuerst auf naturalistische Weise nieder. Hauptmann wollte seine Leser/Zuschauer teilhaben, mitfühlen lassen am Schicksal dieser Menschen, was ihn vom Zeitgenossen Ibsen unterschied, der eine kritische Distanz bevorzugte. Es waren eben diese Werke, die Hauptmann berühmt machten und ihm schließlich 1912 den Nobelpreis einbrachten.
„Vor Sonnenaufgang“ ist die Geschichte der Bauernfamilie Krause, denen dieses unerwartete und zweifelhafte Glück zuteil wurde. Helene, die jüngere Tochter des Bauern Krause erklärt: „In mehr als einem Stall hier fressen Kühe und Pferde aus marmornen Krippen und neusilbernen Raufen! Das hat die Kohle gemacht, die unter unseren Feldern gemutet worden ist, die hat die armen Bauern im Handumdrehen steinreich gemacht.“ Das Ergebnis ist verheerend. Bauer Krause ist unrettbarer Alkoholiker, seine zweite Frau unterhält eine libidinöse Beziehung mit ihrem Neffen, dem Nachbarsjungen, den die Familie mit Helene verkuppeln möchte. Die ältere Tochter Martha, verheiratet mit dem Ingenieur Hoffmann, ist schwanger und ebenfalls Alkoholikerin. Hoffmann plant, sein Kind von der Mutter zu trennen. Eine Villa ist bereits gekauft. Er wird gegen seine Schwägerin Helene übergriffig und hofft darauf, sie sexuell gefügig zu machen und auch darauf, dass sie sich des Kindes an Mutter statt annimmt. Helene ist aber auch dem Missbrauch durch den Vater ausgesetzt, der im Suff keine Unterscheidungen macht.
In diese Hölle hinein kommt Alfred Loth, sozialistischer Utopist, der einen Bericht über die Zustände unter den Bergarbeitern verfassen will. Hoffmann und Loth waren einst Jugendfreunde und Gesinnungsgenossen. Doch nun stehen sich zwei Weltanschauungen konträr gegenüber. Der kurze Besuch führt immerhin dazu, dass sich Alfred Loth und Helene näher kommen. Doch am Ende, in Hauptmanns sozialem Drama wird es von der Totgeburt des sehnlich erwarteten Kindes markiert, entpuppt auch Alfred Loth sich als Spießer und Feigling, flieht Helene, die sich selbst in einen Hirschfänger stürzt.
v.l. Pia Händler, Michael Wächter, Simon Zagermann © Sandra Then |
Ewald Palmetshofer hat eine Adaption gewagt, um diesen Stoff in unserer heutigen neoliberalen Welt anzusiedeln. Ein Risiko? Nein, denn Palmetshofer kann auf eine Konstante unbedingt vertrauen, und die ist der Mensch. Der Mensch ist immer noch dasselbe manipulierbare, von Schwächen mehr als von Stärken beseeltes Geschöpf, immer noch genau so triebhaft, gewissenlos, feige, aber auch ein zur Liebe und zur Empathie fähiges Geschöpf wie zu Hauptmanns Zeiten. Die geistige und moralische Barbarei dauert indes an, nur hat sie sich besser getarnt und so sind wir immer wieder aufs Neue betroffen, Betroffenheit ist in unserer kultivierten Welt an die Stelle von Entsetzen getreten, dass tagtäglich Kinder missbraucht und Familien und soziale Verbände zerstört werden, Alkoholismus und Drogensucht eine berechenbare Zahl von Opfern fordert, dass finanzielle Erwägungen eine übergroße Rolle bei der Partnerwahl spielen, dass Menschen sich massenhaft suizidieren, weil sie in dieser „besten aller Welten“ keinen Sinn mehr finden können. Und auch politisch stehen wir wieder an der Schwelle zur Demontage aller Einsichten, zu denen wir durch zwei Weltkriege und viele Krisen schmerzlich gelangt sind. Es mangelt nicht an Stoff für Tragödien.
Ewald Palmetshofer nahm viel der Handlung aus dem Hauptmannschen Stück heraus und ließ dafür Anschauungen miteinander kollidieren. Das Spiel fand im Haus einer Familie statt, in der die Übergabe eines mittelständischen Unternehmens aus der Hand des Seniorunternehmers Egon Krause an den Schwiegersohn Thomas Hoffmann vollzogen worden war. Steffen Höld stattete die Figur des Seniors mit so viel emotionaler Vereinsamung aus, dass der Alkoholismus nicht nur glaubhaft, sondern beinahe zwingend war. Michael Wächters Junior Hoffmann war ganz Sinnbild des Erfolges. Ganz von sich eingenommen und mit einem gehörigen Maß an sozialer Arroganz ausgestattet, geriet der ökonomische Heroe schnell ins Schleudern, als unerwartet Alfred Loth auftauchte.
Simon Zagermann agierte über weite Strecken sehr zurückhaltend und kaschierte damit die menschliche Seite seines Anliegens, in dem er ein berufliches Anliegen immerhin zögerlich eingestand. Bei Palmetshofer war er ein „linker“ Journalist, der den Studienkollegen Hoffman lange aus den Augen verloren hatte, bis dieser mit poltischen Aktivitäten in Erscheinung getreten war. Es stellte sich bald heraus, dass diese Aktivitäten alles andere als „links“ waren und Hoffmann seine jugendliche, sozialorientierte Weltanschauung längst verraten hatte. Dieser Typus Mitbürger gehört zu jenen, die in der heutigen Gesellschaft eine Erosion des Zusammenhalts vorantreiben.
Die weiblichen Protagonistinnen blieben allerdings in Palmetshofers dramatischem Entwurf mehr oder weniger Trabanten, um die beiden Pole des Konflikts Loth und Hoffmann kreisend. Annemarie Krause, Egon Krauses zweite Frau, war Haushaltsvorstand und hauptsächlich auf mitunter peinliche Weise bemüht, Formen zu wahren oder zu etablieren, die von vornherein fadenscheinig waren. Cathrin Störmer tat dies mit enormer Präsenz und nicht ohne Komik. Myriam Schröder gab die ältere Tochter Krauses aus erster Ehe. Sie, Martha, hochschwanger, hatte vornehmlich die Aufgabe, ein Mysterium aufrecht zu erhalten. Hauptmann hatte seinen Loth irrigerweise die Prädestination, die Erblichkeit von Alkoholismus vertreten lassen. Diese These, längst widerlegt, befeuerte immerhin den Konflikt im Stück von Hauptmann. Palmetshofer brauchte dafür Ersatz und stellte eine Geisteskrankheit der leiblichen Mutter als düstere Verheißung in den Raum. Nur so viel, es funktionierte.
Pia Händler kam der Part der Helene, jüngere Tochter aus Krausens erster Ehe, zu. Sie war, im Gegensatz zu Hauptmanns Stück, besuchsweise im Elternhaus. Helene war eine bodenständige aber nicht wie bei Hauptmann eine naive Frau, die die Unabhängigkeit riskiert und einen „kreativen Beruf“ ergriffen hatte. Der Ertrag war mäßig und gab in ökonomischer Hinsicht keinen Grund zur Hoffnung. Von dem verhaltenen Wesen Loths angezogen, erfährt sie aus einem Gespräch, dessen sie Zeugin wurde, von der altruistischen Weltsicht des Mannes. Er erscheint ihr angesichts ihrer eigenen Situation beinahe messianisch und beide verbringen spontan die Nacht zusammen. Als sich Loth feige vom Feld des Geschehens macht, sieht man sie verzweifelt mit dem Smartphone hantieren, um einen Kontakt zu Loth herzustellen. Vergeblich. Zuletzt ist der Raum von den wahnsinnigen Schreien Marthas erfüllt, die man von ihrem totgeborenen Kind trennte. Der Wahnsinn, der befürchtet worden war, brach nun scheinbar aus. Eben die Angst vor diesem Wahnsinn hatte dazu geführt, dass Martha zuhause, unter der Aufsicht des einstigen Studienkollegen Loths, Dr. Schimmelpfennig, nervig und fahrig von Thiemo Strutzenberger gespielt, entbunden hat. Die nötigen medizinischen Voraussetzungen waren nicht gegeben und so erfüllte sich die Prophezeiung selbst.
Regisseurin Nora Schlocker, inzwischen versiert im Umgang mit den Texten von Ewald Palmetshofer, setzte ganz auf diese. Das physische Spiel aller Darsteller hielt sich in Grenzen. So mäanderte der Sprachfluss aller Darsteller durch den weitestgehend leeren Bühnenraum von Marie Roth. Er war großzügig gehalten, immerhin war es das Haus eines erfolgreichen Unternehmers. Strukturiert wurde der Raum durch Wände, die nach Belieben eingefügt werden konnten. Und so gab es auch ein Draußen. Wenn die Außenwand herabgelassen wurde, befanden sich die zumeist unter Schlaflosigkeit leidenden Darsteller Nächtens im Garten, wo ein Bewegungsmelder die Anwesenheit kontrollierte und kommentierte.
Ewald Palmetshofers Stücke brauchen wenig aufregende szenische Lösungen, zu mächtig ist das Wort, als dass man da noch zusätzliche Effekte einbauen müsste. Und es fesselt auch, vorausgesetzt, es verliert sich nicht in den Nebenarmen des breiten Deltas der Hauptmannschen Geschichte, der bemüht war eine ganze Welt auf die Bühne zu bringen. Und das geschah das eine oder andere Mal, was die 2 Stunden und 45 Minuten reine Spielzeit durchaus beschwerlich machte. Dabei war auf sämtliche Nebenrollen des Hauptmann Stückes verzichtet worden.
Ungeachtet dessen war der Abend hochpotent, denn Ewald Palmetshofer hatte glaubhaft aufgezeigt, dass der Mensch ist, was er ist, ein Quell absurder, kaum fassbarer Tragödien. Er formulierte: „Hinter der zivilisierten Fassade ist der Mensch ein rohes, verzweifeltes, unsolidarisches Tier.“ Und er trat mit seinem Drama auch den Beweis an, auch und vor allem in der heutigen Welt. Ein wertvoller, wenngleich nicht immer kurzweiliger Abend.
Wolf Banitzki
Vor Sonnenaufgang
von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann
Mit: Steffen Höld, Cathrin Störmer, Pia Händler, Myriam Schröder, Michael Wächter, Simon Zagermann, Thiemo Strutzenberger Inszenierung: Nora Schlocker |