Residenztheater Leonce und Lena nach Georg Büchner


 

In der Finsternis des Unterbewussten

Alles in allem ist die Geschichte von „Leonce und Lena“, obgleich Fragment geblieben, eine runde. Beide sind, ohne sich zu kennen, füreinander bestimmt. Leonce, Prinz aus dem Reiche Popo, und Lena, Prinzessin aus dem Reich Pipi, sollen miteinander vermählt werden. Zugleich will Peter, König von Popo, sein Amt mit der Hochzeit an seinen Sohn übertragen, um dann einer Beschäftigung nachzugehen, für die er bislang wenig Gelegenheit hatte: Denken. Dabei ist er beinahe so etwas wie ein Philosoph: „Der Mensch muß denken und ich muß für meine Unterthanen denken, denn sie denken nicht, sie denken nicht. – Die Substanz ist das 'an sich', das bin ich.“ Doch weder Denken, noch andere sinnvolle Tätigkeiten sind bei Hofe so recht in Mode. So gesteht beispielsweise Valerio, Freund und Untergebener von Leonce, freimütig: „Herr, ich habe die große Beschäftigung, müßig zu gehen, ich habe eine ungemeine Fertigkeit im Nichtsthun, ich besitze eine ungeheure Ausdauer in der Faulheit.“

Es ist Lena, die zuerst darauf kommt, dass es weder moralisch noch rechtens sein kann, dass zwei Unbekannte miteinander vermählt werden sollen: „Aber warum schlägt man einen Nagel durch zwei Hände, die sich nicht suchten? Was hat meine arme Hand gethan?“ Uneinsichtig wie sie ist und bleibt, macht sie sich mit der Gouvernante auf und davon, nach Italien. Ebenso Leonce, der einen Sinn im Leben sucht, anstatt ein „nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft (zu) werden“ und schließlich einem Drange folgt: „Fühlst du nicht das Wehen aus Süden? (…)Wir gehen nach Italien.“

Gesagt, getan. Doch bald schon stellt sich Überdruss ein: „Wir sind schon durch ein Dutzend Fürstenthümer, durch ein halbes Dutzend Großherzogthümer und durch ein paar Königreiche gelaufen und das in der größten Uebereilung in einem halben Tag, und warum? Weil man König werden und eine schöne Prinzessin heirathen soll.“ Der Mann ist ja grundsätzlich nicht abgeneigt, doch hat Leonce ein sehr genaues Bild von seiner Zukünftigen, die es zu finden gilt, vor Augen: „Sie ist unendlich schön und unendlich geistlos. Die Schönheit ist da so hülflos, so rührend, wie ein neugebornes Kind. Es ist ein köstlicher Contrast. Diese himmlisch stupiden Augen, dieser göttlich einfältige Mund, dieses schafnasige griechische Profil, dieser geistige Tod in diesem geistigen Leib.“

In einem Gasthof geschieht dann das Naheliegende, Leonce und Lena begegnen und verlieben sich. Nun braucht es einen Einfall, wie man zusammen und zudem nach Hause kommen kann. In Popo laufen die Hochzeitsvorbereitungen auf Hochtouren, obgleich das Brautpaar verschollen ist. Protokoll ist Protokoll und das tut der Landrat kund: „Sämmtliche Unterthanen werden von freien Stücken, reinlich gekleidet, wohlgenährt, und mit zufriedenen Gesichtern sich längs der Landstraße aufstellen.“ Das jämmerliche Volk tut sein Bestes und der Landrat belohnt es: „Erkennt was man für euch thut, man hat euch grade so gestellt, daß der Wind von der Küche über euch geht und ihr auch einmal in eurem Leben einen Braten riecht.“

Leonce und Lena, Valerio und die Gouvernante passieren die Grenze Popos maskiert und geben vor, Automatenmenschen zu sein, in denen sich die ersten Regungen der Liebe zeigen. Man könnte sie sogar verheiraten. Da nun gerade das ganze Aufgebot steht und es an einem Brautpaar mangelt, sieht der König die Möglichkeit, die Festivität dennoch stattfinden zu lassen und das Automatenpaar als Leonce und Lena zu verkaufen. König Peter: „Jetzt hab' ich's. Wir feiern die Hochzeit in effigie. (Auf Leonce und Lena deutend.) Das ist der Prinz, das ist die Prinzessin. Ich werde meinen Beschluß durchsetzen, ich werde mich freuen.“ Nach der Trauung und der Demaskierung sind alle entsetzt, wollen alles annullieren, kommen allesamt wieder zur Vernunft und belassen es bei diesem Status.

  Leonce und Lena  
 

v.l. Barbara Melzl, Lisa Stiegler, Steffen Höld, Annalisa Derossi, Elias Eilinghoff, Daniele Pintaudi

© Sandra Then

 

Eine Komödie, möchte man meinen, doch im historischen Kontext betrachtet ist dieses Stück weit mehr. Was Büchner sechzehnjährig in seinem Hessischen Landboten noch dokumentierte und analysierte, karikierte er in seiner 1836 geschriebenen und erst 1895 in München uraufgeführten Komödie „Leonce und Lena“ in bis dato kaum gekannter Schärfe. Er stellte darin den Adel als faul, ignorant, degoutant und völlig verblödet dar. So lässt er den König zum Beispiel sagen: „Wenn ich so laut rede, so weiß ich nicht wer es eigentlich ist, ich oder ein Anderer, das ängstigt mich.“ Die Ableger des Adels kommen keinen Deut besser weg. Er legt Leonce, nachdem der schwülstige Todesfantasien entwickelt und Valerio ihm in die Parade fährt, die Worte in den Mund: “ Mensch, du hast mich um den schönsten Selbstmord gebracht. Ich werde in meinem Leben keinen so vorzüglichen Augenblick mehr dazu finden und das Wetter ist so vortrefflich. Jetzt bin ich schon aus der Stimmung.“ Nach der Eheschließung beschwört das Paar ein Paradies, das blödsinniger kaum genannt werden kann: „Und dann umstellen wir das Ländchen mit Brennspiegeln, dass es keinen Winter mehr gibt und wir uns im Sommer bis Ischia und Capri hinaufdestillieren, und wir das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeern stecken.“

Büchner machte sich ebenso lustig über die deutsche Kleinstaaterei, man durchquerte ein Dutzend Fürstentümer an einem halben Tag, aber auch über das Volk, das wie Schafe sein Los erduldet und dankbar dem Bratenduft hinterher schnuppert. Es steckt viel Bitternis darin, denn Büchner, der bereits als Teenager steckbrieflich gesucht wurde, der in seinem Versteck „Dantons Tod“ schrieb, hatte alle Hoffnung fahren lassen, dass die Ideale der französischen Revolution, von den Franzosen selbst verraten, in Deutschland noch Wirkung zeitigen könnten. Georg Büchner, der vierundzwanzigjährig starb, war vollkommen desillusioniert und schrieb ein Stück, das in die erste Reihe des Theaters des Absurden gestellt werden könnte. Allein, er schrieb es gut einhundert Jahre früher. Warum nun diese ausführlichen Erläuterungen zum Stück, wird sich der eine oder andere Leser fragen. Es scheint angebracht, ein wenig mehr über das Stück zu erzählen, denn in der Inszenierung am Münchner Residenztheater wird davon nicht viel wieder zu erkennen sein und das führt vermutlich zu Irritationen.

Regisseur Thom Luz, der zuletzt mit „Olympiapark in the Dark“ im Marstall eine eigenwillige, substantielle und witzige Inszenierung ablieferte, hatte für „Leonce und Lena“ eine ebenso eigenwillige Herangehensweise gewählt. Sein Ansatz liest sich wie folgt: „Bei der genaueren Lektüre stellt man aber fest, dass seltsame Lücken, Risse und Leerstellen zwischen den Textzeilen klaffen – und auch die Figuren selbst voller unverfugter Abgründe sind, in die man als Leser*in, Schauspieler*in oder Regisseur ständig hineinfällt und an deren Boden die großen Menschheitsfragen funkeln: wer, weshalb, wohin.“ (Programmheft zum Stück) Klingt durchaus interessant, schließlich ist diese Inszenierung ja nicht von, sondern nach Büchner. Anhängig ist im Text eine Vielzahl an Fragen.

Die werden allerdings unter Berufung auf John Cage nicht beantwortet, der da sagte: „Das ist eine wunderbare Frage, die ich nicht mit einer Antwort verderben möchte.“ Allein, am Ende zählt, was auf der Bühne zu sehen ist und ob der Zuschauer sich dreinfindet. Zuerst war einmal eine Menge zu hören auf der Bühne. Drei Klaviere wurden von Annalisa Derossi und Daniele Pintaudi eifrig bespielt. Und damit begann schon das Dilemma, denn die musikalischen Motive waren so vielfältig, dass sich ein Grundtenor kaum ausmachen ließ. Ebenso ließen sich die Darsteller kaum durchgängig einer Rolle zuweisen. Die Texte wurden in den Raum gestellt, ohne dass sie einem Erzählstrang folgten und wenn, dann war der nur schwerlich auszumachen. Insofern war es bei Unkenntnis des Stückes kaum möglich, den Inhalt tatsächlich zu erfassen.

Ein weiterer großer Vertreter muss herangezogen werden, um zu verstehen, was auf der Bühne des Residenztheaters passierte. Gemeint ist der Symbolist Maurice Maeterlinck, der im Programmheft mit seinem Text „Androiden Theater“ vertreten ist und darin wird das „Unbewusste“ angegeben. Maeterlinck nennt darin das Theater den „Tempel des Traums“ und verweist zugleich darauf, dass dies ein sehr altes Missverständnis sei. Aber der Mensch neigt dazu, seinen Instinkten zu folgen und somit dieses Missverständnis aufrecht zu erhalten. Doch genau dieses Bild, das Bild von einem Traumspiel, stellte sich für den Betrachter der Inszenierung dar. Allerding verliefen sich die Figuren immer wieder in den oben genannten „seltsamen Lücken, Rissen und Leerstellen“ und wurden zu Posen, nicht selten zu musikalischen Posen. Dabei wurde die Realität bis zu einer totalen Finsternis (Im wahrsten Sinn des Wortes!) herunter gefahren und im Raum verblieb nur noch das gesprochene Wort. Dabei wurde das Wort mehr Klang als bedeutungsvolle Sprache, denn es wurde keine konkrete Situation mehr erkennbar.

So saßen die Zuschauer eine Stunde und 25 Minuten vor einem Geschehen, dem sie nicht immer folgen konnten, weil eine Zuordnung der Figuren zur diskontinuierlich erzählten Handlung sehr schwer war, aber auch, weil die Bühnensituation die Geschichte nicht zusammenhielt. Thom Luz, der auch für die Bühne verantwortlich zeichnete, bespielte sie in ihrer ganzen Tiefe, wodurch Schlüsselszenen, wie das Maskenspiel, vor einem großen Spiegel extrem weit vom Publikum wegrückten. Sehr vieles erging sich in Andeutungen wie das Spiel mit den Kostümen (Tina Bleuler), aber auch die Musik (Leitung Mathias Weibel). So war man als Zuschauer ständig bemüht, nach Interpretationen zu suchen, was vielen Zuschauern letztlich nicht gelang und das Publikum deutlich spaltete, wobei fraglich ist, ob denen, die die Inszenierung frenetisch beklatschten, eine Erleuchtung zuteilwurde.

Tatsächlich blieb, anders als bei „Olympiapark in the Dark“, wenig Substanzielles im Gedächtnis und irgendwie wurde man mit dem Gefühl entlassen, um das wunderbare Stück „Leonce und Lena“ geprellt worden zu sein. Dabei sollen keine Konventionen beschworen werden. Allerdings sind Zweifel angebracht, ob der zum Teil recht beschwerliche, ästhetisch traumhaft anmutende Tanz in den „seltsamen Lücken, Rissen und Leerstellen“ durch das „Spiegellabyrinth zwischen Thron- und Tanzsaal und dem Irrenhaus“ ein hinreichender Ersatz für die Geschichte und die kaum zu überschätzende Sprachkunst Büchners war. Etliche Buhs sprachen nicht unbedingt für eine ungeteilte Sicht.

Wolf Banitzki

 


Leonce und Lena

nach Georg Büchner

Mit: Annalisa Derossi, Elias Eilinghoff, Steffen Höld, Barbara Melzl, Daniele Pintaudi, Lisa Stiegler

Inszenierung: Thom Luz