Residenz Theater Der Gott des Gemetzels von Yasmina Reza


 

 

"Die Kunst des zivilisierten Umgangs" und ihre Folgen

Ferdinand hat Bruno, beide elfjährig, mit einem Stock zwei Zähne ausgeschlagen. Véronique und Michel, Eltern Brunos, haben Annette und Alain, Eltern Ferdinands, zu sich in die Beschaulichkeit gutbürgerlichen Wohnens eingeladen, um diesen "bestialischen Akt" vermittels der "Kunst des zivilisierten Umgangs" gütlich beizulegen. Das Stück beginnt mit dem Abfassen einer gemeinsamen Erklärung. Die immer wieder beschworene "Kunst des zivilisierten Umgangs", eine Chimäre, wie sich sehr schnell herausstellt, geht alsbald in Kotz-, Schrei- und Bezichtigungsorgien unter. Das Ende liegt auf der Hand.

Es handelt sich bei Yasmina Rezas Stück um eine unterhaltsame und überaus witzige Komödie, die Dieter Dorn mit sehr viel Feingefühl und hemmungsloser Situationskomik in Szene setze. Dabei kann getrost ignoriert werden, dass die Grenze des Klamauks in bedrohliche Nähe rückte, denn Theater soll auch wider den tierischen Ernst unterhalten. Jürgen Rose, der für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnete, mied die große Illusion. Ein Prospekt vom Bühnenhintergrund vor dem Bühnenhintergrund ließ klar und deutlich erkennen, hier findet Theater im Theater statt. Er platzierte an der Rampe ein Podest, das die Maße des Houilléschen Wohnzimmer vorgab. Auf diesem Laboratoriumsplateau befand sich nur das Unvermeidliche, vier Sitzmöbel, ein Tisch, einige Stapel Kunstbücher und zwei Vasen mit üppigen Sträußen weißer Tulpen.
 
   
 

Sibylle Canonica, Michael von Au, Sunnyi Melles, Stefan Hunstein

© Thomas Dashuber

 

 

Die gutbürgerliche Beschaulichkeit wandelte sich bereits nach den ersten Worten zum Schlachtfeld. Véronique, Schriftstellerin, die, wie ihr Mann wissen ließ, auch arbeite, halbtags, war augenscheinlich Initiatorin dieses Zusammentreffens. Sibylle Canonica war eine Idealbesetzung für die Rolle der emanzipierten Frau, deren geistiger Horizont bis zu den Massakern von Darfur reichte. Engagiert bis zur schmallippigen Verbissenheit, propagierte sie die Werte der westlichen Zivilisation, zu der sie sich glücklich zugehörig fühlte. Ihr Ehemann Michel, Großhändler für Sanitäranlagen und Küchenbedarf, war in seiner geistigen Orientierung weniger hochfliegend. Michael von Au brillierte in der Rolle des bodenständigen Kleinbürgers, dem ein zwölfjähriger Rum näher war als die Aufrechterhaltung des Kantschen Moralprinzips. Sunnyi Melles fungierte in der Rolle der Annette als Katalysator für den schnellen Fortgang des "zivilisatorischen Verfalls". Eingangs sehr naiv und komisch fragend, brachte sie nach einer Kotzorgie auf Beckmann und Bacon (Insignien der Kultiviertheit) die Dinge mit zunehmendem Alkoholpegel brachial auf den Punkt: Alles war nur Fassade, Verlogenheit! Der wahre Gegenspieler zu Véroniques zivilisiertem Umgang war jedoch Alain, Eheman Annettes, Anwalt seines Zeichens. Verstrickt in die inhumanen Machenschaften eines Pharmakonzerns, rief er dann in höchster Not den "Gott des Gemetzels" aus. In schlichter Übersetzung: Jeder gegen jeden. Was Stefan Hunstein in dieser Rolle leistete, war höchste Schauspielkunst.

Das Publikum bedachte diese Inszenierung mit begeistertem, nicht enden wollendem Lob. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Lob der Leistung der Schauspieler und der Regie galt. Das Thema des Stücks sollte doch eigentlich betroffen machen, denn dieses war "(…) ja die grandios gedankenlose Schlampigkeit, mit der man die Fragen des Zusammenlebens unter gebildeten Menschen behandelt, je nach Moment und Empfindlichkeit beantwortet und das Ergebnis des Versuchs, vor sich und den anderen eine gute Figur zu machen, (…)." (Rolf Schröder im Programmheft)

Immerhin, das Theater fungierte ohne Zweifel als Spiegel der Gesellschaft. Fragt sich nur, ob die Wucht der künstlerischen Qualität derartige Überlegungen auch zuließ. Das Stück von Yasmina Reza ist unbestritten eine sensitive Höchstleistung. Doch ist die fatalistische Starre, in der sich die Figuren am Ende wieder finden auch dazu angetan, kathartisch zu wirken? Wohl kaum, denn es ist erklärtes Credo der Autorin, dass `Engagement für den Bürger, nicht aber für den Schriftsteller Sinn macht`. Wie soll der Bürger zu den Horizont erweiternden Schlüssen kommen, wenn sich die Autorin solchen notwendigen Schlüssen verweigert.

Für die Botschaft wird beschränkt gehaftet, was an die ökonomische Einrichtung "GmbH" erinnert: "Seine Botschaft (die des Stücks - Anm. W.B.) liegt darin, dass es vor der Verlockung des poetischen Fundamentalismus so wenig wie vor den aufgeregten Übertreibungen der Kolportage kapituliert. Das Stück sucht die Punkte heraus, an denen der Eifer für eine gute Sache ins Pharisäische umkippt, ohne dem Exzess des egoistischen Gens zu applaudieren." (Rolf Schröder im Programmheft) Fraglos leistet dies Stück nicht weniger, aber bestimmt auch nicht mehr. Aber, und diese Frage muss erlaubt sein, wird mit der Formulierung "Verlockung des poetischen Fundamentalismus" nicht auch jede Form von Vision vorab disqualifiziert und verhindert?

Was im Münchner Residenz Theater so frenetisch beklatscht wurde, war die Bankrotterklärung der bürgerlichen Gesellschaft, in der sich die Zuschauer mehr oder weniger gut eingerichtet haben. Selten gab ein Satz in einem Programmheft, in dem von Kant bis Sloterdijk intellektuell hochfliegend zitiert wird, so deutlich Auskunft über den Charakter eines Stücks. Dieser Satz stammt von Hans-Joachim Ruckhäberle, einem Dramaturgen, dem Popper anempfohlen sei, der sinngemäß meinte: Wenn man die Dinge nicht klar und deutlich artikulieren kann, sollte man schweigen und lernen, die Dinge klar und deutlich zu sagen. Chefdramaturg Rückhäberle fasste zusammen: "Le dieu du carnage, der Gott Gemetzels, den Alain im Stück anruft, ist nicht die antibürgerliche Provokation der künstlerischen Avantgarde, sondern die Verneinung der Entwicklung des Menschen an sich."

Diese "Verneinung der Entwicklung des Menschen an sich" wird dem Residenz Theater ausverkaufte Vorstellungen garantieren, womit sich der Kreis des vom Geld regierten Menschen wieder schließt.

 

Wolf Banitzki

 

 

 

Der Gott des Gemetzels

von Yasmina Reza

Deutsch von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel

Sibylle Canonica, Sunnyi Melles, Michael von Au, Stefan Hunstein

Regie: Dieter Dorn